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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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bei weitem diejenigen der Schlittenreisen im vergangenen Herbste. Der
Schlitten war in dem sehr erweichten Schnee kaum fortzubringen. Das nun
schon fast volle 24 Stunden andauernde blendende Licht der Sonne auf den
weiten Schneewüsten erzeugte einen unerträglichen Reiz in den Augen. Wer
das Unglück hatte schneeblind zu werden, ging den größten Schmerzen ent¬
gegen. Und dennoch mußte der Aermste nach wie vor den schweren Schlitten,
mit verhangenen Gesicht, weiter ziehen, da keine der wenigen Menschenkräfte
entbehrt werden konnten, wenn man weiter wollte. Immer tiefer sank bei
Allen die Leistungsfähigkeit in Folge der ungeheueren Anstrengungen und
Entbehrungen des Tages, der qualvollen schlaflosen Nächte, des stets steigenden
Hungers und Durstes. Stets wuchs die Schlafsucht, die Einzelne oft
während des Schlittenziehens überfiel, und Andere bei kurzer Rast in die
Gefahr des Erfrierens brachte. Es ist schwer daran zu denken, welches das
Schicksal dieser Expedition gewesen wäre, wenn ihr nicht auf der Rückkehr ein
ganz unerwartetes Jagdglück den schon völlig erschöpften Vorrath an Lebens¬
mitteln wieder bis zur Rückkehr nach dem Schiffe ergänzt hätte. Auch das
Fett erlegter Bären gestattete, den Spiritus, der sonst kaum zum Kochen
gelangt hätte, zur Herstellung von etwas Schmelzwasser zu verwenden und
dadurch den brennendsten Durst zu löschen. Daß die Expedition unter solchen
Verhältnissen auch noch genau und allseitig den Lauf der Küste, die Beschaffen¬
heit des Landes beobachtete und aufnahm, Eis-, Höhen- u. f. w. Messungen
auf das gewissenhafteste erfüllte, kann das hohe Lob, das sie verdient hat,
nur steigern. Und wie empfänglich zeigten sie sich trotz alledem für die
grandiose Schönheit der grönländischen Küste, die sie durchwanderten, für den
ersten Frühlingsgruß eines Vogels bet der Heimkehr. Man mag sich denken,
Mit welchen Gefühlen die schwergeprüften Männer am 27. April ihr Schiff
wieder betraten. "Welche Wonne bot uns dieses", schreiben sie. "Eine
Kajüte, in der man aufrecht stehen, Kisten, aus die man sich setzen konnte,
hier durfte man sich nach 5 Wochen wieder einmal ausziehen, hier winkten
eine Koje mit Matratze und Decken anstatt des Schlafsackes. Der außer¬
ordentliche Fall veranlaßte den Koch sogar zu dulden, daß man unbeobachtet
Und ungemessen von seinem Schmelzwasser trank. Die größte Anstrengung
erforderte die Sättigung. Vier Stunden aßen wir ohne Unterlaß von Allem,
dessen wir habhaft wurden: große Stücke gebratenes Bärenfleisch, Speck,
Kraut, Schiffszwieback, Brot, Butter, Käse, tranken Wein, Chocolade, schwarzen
Kaffee u. s. w." --

Die Resultate dieser mühseligen Reise waren indeß unzweifelhaft ihre
Opfer werth. Man hatte ein über mehrere Längen- und Breitegrade sich
ausdehnendes Land entdeckt und war nördlicher als je zuvor in Ostgrönland
vorgedrungen. Man hatte die Ueberzeugung von der ungeheueren Zerrissenheit


Grenzboten IN. 1874. 43

bei weitem diejenigen der Schlittenreisen im vergangenen Herbste. Der
Schlitten war in dem sehr erweichten Schnee kaum fortzubringen. Das nun
schon fast volle 24 Stunden andauernde blendende Licht der Sonne auf den
weiten Schneewüsten erzeugte einen unerträglichen Reiz in den Augen. Wer
das Unglück hatte schneeblind zu werden, ging den größten Schmerzen ent¬
gegen. Und dennoch mußte der Aermste nach wie vor den schweren Schlitten,
mit verhangenen Gesicht, weiter ziehen, da keine der wenigen Menschenkräfte
entbehrt werden konnten, wenn man weiter wollte. Immer tiefer sank bei
Allen die Leistungsfähigkeit in Folge der ungeheueren Anstrengungen und
Entbehrungen des Tages, der qualvollen schlaflosen Nächte, des stets steigenden
Hungers und Durstes. Stets wuchs die Schlafsucht, die Einzelne oft
während des Schlittenziehens überfiel, und Andere bei kurzer Rast in die
Gefahr des Erfrierens brachte. Es ist schwer daran zu denken, welches das
Schicksal dieser Expedition gewesen wäre, wenn ihr nicht auf der Rückkehr ein
ganz unerwartetes Jagdglück den schon völlig erschöpften Vorrath an Lebens¬
mitteln wieder bis zur Rückkehr nach dem Schiffe ergänzt hätte. Auch das
Fett erlegter Bären gestattete, den Spiritus, der sonst kaum zum Kochen
gelangt hätte, zur Herstellung von etwas Schmelzwasser zu verwenden und
dadurch den brennendsten Durst zu löschen. Daß die Expedition unter solchen
Verhältnissen auch noch genau und allseitig den Lauf der Küste, die Beschaffen¬
heit des Landes beobachtete und aufnahm, Eis-, Höhen- u. f. w. Messungen
auf das gewissenhafteste erfüllte, kann das hohe Lob, das sie verdient hat,
nur steigern. Und wie empfänglich zeigten sie sich trotz alledem für die
grandiose Schönheit der grönländischen Küste, die sie durchwanderten, für den
ersten Frühlingsgruß eines Vogels bet der Heimkehr. Man mag sich denken,
Mit welchen Gefühlen die schwergeprüften Männer am 27. April ihr Schiff
wieder betraten. „Welche Wonne bot uns dieses", schreiben sie. „Eine
Kajüte, in der man aufrecht stehen, Kisten, aus die man sich setzen konnte,
hier durfte man sich nach 5 Wochen wieder einmal ausziehen, hier winkten
eine Koje mit Matratze und Decken anstatt des Schlafsackes. Der außer¬
ordentliche Fall veranlaßte den Koch sogar zu dulden, daß man unbeobachtet
Und ungemessen von seinem Schmelzwasser trank. Die größte Anstrengung
erforderte die Sättigung. Vier Stunden aßen wir ohne Unterlaß von Allem,
dessen wir habhaft wurden: große Stücke gebratenes Bärenfleisch, Speck,
Kraut, Schiffszwieback, Brot, Butter, Käse, tranken Wein, Chocolade, schwarzen
Kaffee u. s. w." —

Die Resultate dieser mühseligen Reise waren indeß unzweifelhaft ihre
Opfer werth. Man hatte ein über mehrere Längen- und Breitegrade sich
ausdehnendes Land entdeckt und war nördlicher als je zuvor in Ostgrönland
vorgedrungen. Man hatte die Ueberzeugung von der ungeheueren Zerrissenheit


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[0345] bei weitem diejenigen der Schlittenreisen im vergangenen Herbste. Der Schlitten war in dem sehr erweichten Schnee kaum fortzubringen. Das nun schon fast volle 24 Stunden andauernde blendende Licht der Sonne auf den weiten Schneewüsten erzeugte einen unerträglichen Reiz in den Augen. Wer das Unglück hatte schneeblind zu werden, ging den größten Schmerzen ent¬ gegen. Und dennoch mußte der Aermste nach wie vor den schweren Schlitten, mit verhangenen Gesicht, weiter ziehen, da keine der wenigen Menschenkräfte entbehrt werden konnten, wenn man weiter wollte. Immer tiefer sank bei Allen die Leistungsfähigkeit in Folge der ungeheueren Anstrengungen und Entbehrungen des Tages, der qualvollen schlaflosen Nächte, des stets steigenden Hungers und Durstes. Stets wuchs die Schlafsucht, die Einzelne oft während des Schlittenziehens überfiel, und Andere bei kurzer Rast in die Gefahr des Erfrierens brachte. Es ist schwer daran zu denken, welches das Schicksal dieser Expedition gewesen wäre, wenn ihr nicht auf der Rückkehr ein ganz unerwartetes Jagdglück den schon völlig erschöpften Vorrath an Lebens¬ mitteln wieder bis zur Rückkehr nach dem Schiffe ergänzt hätte. Auch das Fett erlegter Bären gestattete, den Spiritus, der sonst kaum zum Kochen gelangt hätte, zur Herstellung von etwas Schmelzwasser zu verwenden und dadurch den brennendsten Durst zu löschen. Daß die Expedition unter solchen Verhältnissen auch noch genau und allseitig den Lauf der Küste, die Beschaffen¬ heit des Landes beobachtete und aufnahm, Eis-, Höhen- u. f. w. Messungen auf das gewissenhafteste erfüllte, kann das hohe Lob, das sie verdient hat, nur steigern. Und wie empfänglich zeigten sie sich trotz alledem für die grandiose Schönheit der grönländischen Küste, die sie durchwanderten, für den ersten Frühlingsgruß eines Vogels bet der Heimkehr. Man mag sich denken, Mit welchen Gefühlen die schwergeprüften Männer am 27. April ihr Schiff wieder betraten. „Welche Wonne bot uns dieses", schreiben sie. „Eine Kajüte, in der man aufrecht stehen, Kisten, aus die man sich setzen konnte, hier durfte man sich nach 5 Wochen wieder einmal ausziehen, hier winkten eine Koje mit Matratze und Decken anstatt des Schlafsackes. Der außer¬ ordentliche Fall veranlaßte den Koch sogar zu dulden, daß man unbeobachtet Und ungemessen von seinem Schmelzwasser trank. Die größte Anstrengung erforderte die Sättigung. Vier Stunden aßen wir ohne Unterlaß von Allem, dessen wir habhaft wurden: große Stücke gebratenes Bärenfleisch, Speck, Kraut, Schiffszwieback, Brot, Butter, Käse, tranken Wein, Chocolade, schwarzen Kaffee u. s. w." — Die Resultate dieser mühseligen Reise waren indeß unzweifelhaft ihre Opfer werth. Man hatte ein über mehrere Längen- und Breitegrade sich ausdehnendes Land entdeckt und war nördlicher als je zuvor in Ostgrönland vorgedrungen. Man hatte die Ueberzeugung von der ungeheueren Zerrissenheit Grenzboten IN. 1874. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/345>, abgerufen am 17.06.2024.