Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Freiheit, für die vollständigste Entfaltung jeder eigenartigen Persönlichkeit,
aber er sieht nicht, daß eine nivellirende Gesellschaft weder die politische Frei¬
heit ertragen kann, noch eine individuelle Eigenart bestehen läßt. Er ist ein
zu scharfblickender Beobachter, um nicht die Wirkung seines Princips wahrzu-
nehmen, aber er ist zu sehr in den Banden des Princips befangen, um die
Ursache zu erkennen. Die Revolution soll, wie schon bemerkt, nach seiner
Ansicht nicht nur die Gleichheit hergestellt, sondern den dem gallischen Cha¬
rakter angeblich angeborenen Trieb nach kräftiger Ausprägung der Persön¬
lichkeit zu vollster Entwickelung gebracht haben. In seinen späteren Schriften
aber, in denen der Charakter seiner Zeitgenossen von den verschiedenartigsten
Gesichtspunkten aus mit meisterhafter Schärfe analysirt wird, nimmt er
durchaus keinen Anstand, gerade den Mangel der Originalität, die zu¬
nehmende Einförmigkeit des Denkens und Empfindens aufs Lebhafteste zu
beklagen. Seinem Unmuth über die Schlaffheit und Blasirtheit der Jugend
macht er in den bittersten Worten Luft. Niemand vertraut der eignen Kraft,
von frischem muthigem Unternehmungsgeist ist in Frankreich kaum noch eine
Spur zu finden. Jeder will Notar, Sachwalter, Beamter werden, er erwartet
Alles vom Staat; alle Mütter wollen Beamte zu Schwiegersöhnen. So
kommt es, daß die Verblendung des reaktionären Geistes, die allgemeine Un¬
wissenheit, und die Furcht der Frauen aus dem unternehmungslustigsten Volke
das furchtsamste und trägste gemacht hat, wahre Mollusken auf ihren
Felsen. Den Engländern, den Russen, den Amerikanern ist die ganze Erde
ein Feld für ihre Thätigkeit; die Engländerin findet es ganz natürlich, einen
Kaufmann von Calcutta oder Canton zu heirathen. Selbst Deutschland,
welches so sehr seinen häuslichen Heerd liebt, breitet sich über alle Welttheile
aus. Sehr fein bemerkt er, daß die Stärke des Familienlebens die Wander¬
lust nicht mindert, sondern vermehrt, weil die Familie sicher ist, ihr Glück in
alle Ferne mit sich zu führen. Ihr allein in Europa wißt nicht, ruft er
seinen Landsleuten zu, daß, wenn man euch nicht in die Uniform steckt, ihr
das am meisten an der Scholle klebende, das "verständige" (xrlläknt) Volk
seid. Und was trägt die Schuld an dieser Ermattung des öffentlichen
Geistes, an dieser philisterhaften Selbstbeschränkung? Man wird Michelet's
Antwort schwerlich errathen. Ganz allein Ludwig's XIV. Angriffe gegen
Holland, durch die er England die Seeherrschaft in die Hände gespielt hat.
"Ohne Ludwig XIV. besäßen wir beide Indien. Und warum? Wir wurden
geliebt; wir hatten überall Kinder und die Engländer haben deren nirgends"
(natürlich von Nordamerika abgesehen, wo sie in Massen auftreten).

Sehr lebhaft beklagt Michelet die Erschlaffung des Familiengeistes, die
Blasirtheit der Männer, die wachsende Neigung zu einem ungebundenen
Cölibat, die erschreckend geringe Zahl der Geburten, da Familien mit mehr


Freiheit, für die vollständigste Entfaltung jeder eigenartigen Persönlichkeit,
aber er sieht nicht, daß eine nivellirende Gesellschaft weder die politische Frei¬
heit ertragen kann, noch eine individuelle Eigenart bestehen läßt. Er ist ein
zu scharfblickender Beobachter, um nicht die Wirkung seines Princips wahrzu-
nehmen, aber er ist zu sehr in den Banden des Princips befangen, um die
Ursache zu erkennen. Die Revolution soll, wie schon bemerkt, nach seiner
Ansicht nicht nur die Gleichheit hergestellt, sondern den dem gallischen Cha¬
rakter angeblich angeborenen Trieb nach kräftiger Ausprägung der Persön¬
lichkeit zu vollster Entwickelung gebracht haben. In seinen späteren Schriften
aber, in denen der Charakter seiner Zeitgenossen von den verschiedenartigsten
Gesichtspunkten aus mit meisterhafter Schärfe analysirt wird, nimmt er
durchaus keinen Anstand, gerade den Mangel der Originalität, die zu¬
nehmende Einförmigkeit des Denkens und Empfindens aufs Lebhafteste zu
beklagen. Seinem Unmuth über die Schlaffheit und Blasirtheit der Jugend
macht er in den bittersten Worten Luft. Niemand vertraut der eignen Kraft,
von frischem muthigem Unternehmungsgeist ist in Frankreich kaum noch eine
Spur zu finden. Jeder will Notar, Sachwalter, Beamter werden, er erwartet
Alles vom Staat; alle Mütter wollen Beamte zu Schwiegersöhnen. So
kommt es, daß die Verblendung des reaktionären Geistes, die allgemeine Un¬
wissenheit, und die Furcht der Frauen aus dem unternehmungslustigsten Volke
das furchtsamste und trägste gemacht hat, wahre Mollusken auf ihren
Felsen. Den Engländern, den Russen, den Amerikanern ist die ganze Erde
ein Feld für ihre Thätigkeit; die Engländerin findet es ganz natürlich, einen
Kaufmann von Calcutta oder Canton zu heirathen. Selbst Deutschland,
welches so sehr seinen häuslichen Heerd liebt, breitet sich über alle Welttheile
aus. Sehr fein bemerkt er, daß die Stärke des Familienlebens die Wander¬
lust nicht mindert, sondern vermehrt, weil die Familie sicher ist, ihr Glück in
alle Ferne mit sich zu führen. Ihr allein in Europa wißt nicht, ruft er
seinen Landsleuten zu, daß, wenn man euch nicht in die Uniform steckt, ihr
das am meisten an der Scholle klebende, das „verständige" (xrlläknt) Volk
seid. Und was trägt die Schuld an dieser Ermattung des öffentlichen
Geistes, an dieser philisterhaften Selbstbeschränkung? Man wird Michelet's
Antwort schwerlich errathen. Ganz allein Ludwig's XIV. Angriffe gegen
Holland, durch die er England die Seeherrschaft in die Hände gespielt hat.
„Ohne Ludwig XIV. besäßen wir beide Indien. Und warum? Wir wurden
geliebt; wir hatten überall Kinder und die Engländer haben deren nirgends"
(natürlich von Nordamerika abgesehen, wo sie in Massen auftreten).

Sehr lebhaft beklagt Michelet die Erschlaffung des Familiengeistes, die
Blasirtheit der Männer, die wachsende Neigung zu einem ungebundenen
Cölibat, die erschreckend geringe Zahl der Geburten, da Familien mit mehr


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0500" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132194"/>
          <p xml:id="ID_1657" prev="#ID_1656"> Freiheit, für die vollständigste Entfaltung jeder eigenartigen Persönlichkeit,<lb/>
aber er sieht nicht, daß eine nivellirende Gesellschaft weder die politische Frei¬<lb/>
heit ertragen kann, noch eine individuelle Eigenart bestehen läßt. Er ist ein<lb/>
zu scharfblickender Beobachter, um nicht die Wirkung seines Princips wahrzu-<lb/>
nehmen, aber er ist zu sehr in den Banden des Princips befangen, um die<lb/>
Ursache zu erkennen. Die Revolution soll, wie schon bemerkt, nach seiner<lb/>
Ansicht nicht nur die Gleichheit hergestellt, sondern den dem gallischen Cha¬<lb/>
rakter angeblich angeborenen Trieb nach kräftiger Ausprägung der Persön¬<lb/>
lichkeit zu vollster Entwickelung gebracht haben. In seinen späteren Schriften<lb/>
aber, in denen der Charakter seiner Zeitgenossen von den verschiedenartigsten<lb/>
Gesichtspunkten aus mit meisterhafter Schärfe analysirt wird, nimmt er<lb/>
durchaus keinen Anstand, gerade den Mangel der Originalität, die zu¬<lb/>
nehmende Einförmigkeit des Denkens und Empfindens aufs Lebhafteste zu<lb/>
beklagen. Seinem Unmuth über die Schlaffheit und Blasirtheit der Jugend<lb/>
macht er in den bittersten Worten Luft. Niemand vertraut der eignen Kraft,<lb/>
von frischem muthigem Unternehmungsgeist ist in Frankreich kaum noch eine<lb/>
Spur zu finden. Jeder will Notar, Sachwalter, Beamter werden, er erwartet<lb/>
Alles vom Staat; alle Mütter wollen Beamte zu Schwiegersöhnen. So<lb/>
kommt es, daß die Verblendung des reaktionären Geistes, die allgemeine Un¬<lb/>
wissenheit, und die Furcht der Frauen aus dem unternehmungslustigsten Volke<lb/>
das furchtsamste und trägste gemacht hat, wahre Mollusken auf ihren<lb/>
Felsen. Den Engländern, den Russen, den Amerikanern ist die ganze Erde<lb/>
ein Feld für ihre Thätigkeit; die Engländerin findet es ganz natürlich, einen<lb/>
Kaufmann von Calcutta oder Canton zu heirathen. Selbst Deutschland,<lb/>
welches so sehr seinen häuslichen Heerd liebt, breitet sich über alle Welttheile<lb/>
aus. Sehr fein bemerkt er, daß die Stärke des Familienlebens die Wander¬<lb/>
lust nicht mindert, sondern vermehrt, weil die Familie sicher ist, ihr Glück in<lb/>
alle Ferne mit sich zu führen. Ihr allein in Europa wißt nicht, ruft er<lb/>
seinen Landsleuten zu, daß, wenn man euch nicht in die Uniform steckt, ihr<lb/>
das am meisten an der Scholle klebende, das &#x201E;verständige" (xrlläknt) Volk<lb/>
seid. Und was trägt die Schuld an dieser Ermattung des öffentlichen<lb/>
Geistes, an dieser philisterhaften Selbstbeschränkung? Man wird Michelet's<lb/>
Antwort schwerlich errathen. Ganz allein Ludwig's XIV. Angriffe gegen<lb/>
Holland, durch die er England die Seeherrschaft in die Hände gespielt hat.<lb/>
&#x201E;Ohne Ludwig XIV. besäßen wir beide Indien. Und warum? Wir wurden<lb/>
geliebt; wir hatten überall Kinder und die Engländer haben deren nirgends"<lb/>
(natürlich von Nordamerika abgesehen, wo sie in Massen auftreten).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1658" next="#ID_1659"> Sehr lebhaft beklagt Michelet die Erschlaffung des Familiengeistes, die<lb/>
Blasirtheit der Männer, die wachsende Neigung zu einem ungebundenen<lb/>
Cölibat, die erschreckend geringe Zahl der Geburten, da Familien mit mehr</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0500] Freiheit, für die vollständigste Entfaltung jeder eigenartigen Persönlichkeit, aber er sieht nicht, daß eine nivellirende Gesellschaft weder die politische Frei¬ heit ertragen kann, noch eine individuelle Eigenart bestehen läßt. Er ist ein zu scharfblickender Beobachter, um nicht die Wirkung seines Princips wahrzu- nehmen, aber er ist zu sehr in den Banden des Princips befangen, um die Ursache zu erkennen. Die Revolution soll, wie schon bemerkt, nach seiner Ansicht nicht nur die Gleichheit hergestellt, sondern den dem gallischen Cha¬ rakter angeblich angeborenen Trieb nach kräftiger Ausprägung der Persön¬ lichkeit zu vollster Entwickelung gebracht haben. In seinen späteren Schriften aber, in denen der Charakter seiner Zeitgenossen von den verschiedenartigsten Gesichtspunkten aus mit meisterhafter Schärfe analysirt wird, nimmt er durchaus keinen Anstand, gerade den Mangel der Originalität, die zu¬ nehmende Einförmigkeit des Denkens und Empfindens aufs Lebhafteste zu beklagen. Seinem Unmuth über die Schlaffheit und Blasirtheit der Jugend macht er in den bittersten Worten Luft. Niemand vertraut der eignen Kraft, von frischem muthigem Unternehmungsgeist ist in Frankreich kaum noch eine Spur zu finden. Jeder will Notar, Sachwalter, Beamter werden, er erwartet Alles vom Staat; alle Mütter wollen Beamte zu Schwiegersöhnen. So kommt es, daß die Verblendung des reaktionären Geistes, die allgemeine Un¬ wissenheit, und die Furcht der Frauen aus dem unternehmungslustigsten Volke das furchtsamste und trägste gemacht hat, wahre Mollusken auf ihren Felsen. Den Engländern, den Russen, den Amerikanern ist die ganze Erde ein Feld für ihre Thätigkeit; die Engländerin findet es ganz natürlich, einen Kaufmann von Calcutta oder Canton zu heirathen. Selbst Deutschland, welches so sehr seinen häuslichen Heerd liebt, breitet sich über alle Welttheile aus. Sehr fein bemerkt er, daß die Stärke des Familienlebens die Wander¬ lust nicht mindert, sondern vermehrt, weil die Familie sicher ist, ihr Glück in alle Ferne mit sich zu führen. Ihr allein in Europa wißt nicht, ruft er seinen Landsleuten zu, daß, wenn man euch nicht in die Uniform steckt, ihr das am meisten an der Scholle klebende, das „verständige" (xrlläknt) Volk seid. Und was trägt die Schuld an dieser Ermattung des öffentlichen Geistes, an dieser philisterhaften Selbstbeschränkung? Man wird Michelet's Antwort schwerlich errathen. Ganz allein Ludwig's XIV. Angriffe gegen Holland, durch die er England die Seeherrschaft in die Hände gespielt hat. „Ohne Ludwig XIV. besäßen wir beide Indien. Und warum? Wir wurden geliebt; wir hatten überall Kinder und die Engländer haben deren nirgends" (natürlich von Nordamerika abgesehen, wo sie in Massen auftreten). Sehr lebhaft beklagt Michelet die Erschlaffung des Familiengeistes, die Blasirtheit der Männer, die wachsende Neigung zu einem ungebundenen Cölibat, die erschreckend geringe Zahl der Geburten, da Familien mit mehr

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/500
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/500>, abgerufen am 17.06.2024.