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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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als zwei Kindern nicht bloß in den gebildeten Ständen schon anfangen zu
den Seltenheiten zu gehören. Aber er sieht nicht, daß die Ursache aller dieser
Erscheinungen in dem auf die Spitze getriebenen Individualismus liegt, der
seinerseits eine nothwendige Folge des nivellirenden Gleichheitsprincips ist.
Es liegt in der Natur der Dinge, daß der Einzelne unausgesetzt gegen dies
Princip reagirt; die desorganisirte Gesellschaft -- das Ideal der äußersten
und konsequentesten Demokratie, die socialistische Organisation, ist eben noch
nicht durchgeführt -- setzt ihm keine Schranken entgegen, die einerseits seiner
Willkür Zügel anlegen und in deren Ueberwindung andererseits eine kräf¬
tige Natur sich zu einer selbständigen, charaktervoller Persönlichkeit entfalten
könnte. Man erkennt nur die eine Schranke an, welche die Staatsgewalt
zieht; ihrem Druck fügt man sich, aber da jedes begabte und strebsame Indi¬
viduum doch lieber Hammer als Ambos sein möchte, so drängt Jeder nach
oben, um eine Stelle in dem ungeheueren Organismus der Negierung einzu¬
nehmen und als Glied der Centralgewalt sein Departement zu beherrschen,
oder den Dorfdespoten zu spielen. So schlägt naturgemäß das Gleichheits¬
princip in sein Gegentheil um. Der Ehrgeiz durchbricht seine Schranken
täglich, aber dieser Ehrgeiz ist eben wegen seines grenzenlosen Egoismus
schlaff und unfähig, starke Charaktere zu erzeugen.

Es liegt eine tiefe Tragik darin, daß der hochbegabte, vom idealsten
Streben erfüllte Mann, "der der vollkommenste Ausdruck des französischen
Genius war", mit seinem in die Tiefe der Seele des Einzelnen, wie des
Volkes dringenden Scharfblick die ganze geistige und moralische Zerrüttung
seiner Nation erkennt, und dabei doch, trotz selner Vertiefung in die Ver¬
gangenheit und Gegenwart seines Volkes, unfähig ist. die Quellen des Uebels
zu erkennen. Ja, er erwartet gerade Genesung von dem berauschenden
Trank, der die Nation in beständigem Wechsel zwischen fieberhafter Erregung
und todtenähnlicher Betäubung hin- und herwirft. Ihm war vielleicht vor
allen seinen Mitarbeitern auf dem Felde der Geschichtsforschung die Gabe
verliehen, Frankreich von dem Abgrund zurückzuziehen, dem es zugetrieben
wird. Aber den Götzen zu verleugnen, dem Frankreich seit Jahrhunderten
Weihrauch gestreut hat, das vermochte er nicht; der Einzige, der dies wagte,
Tocqueville, stand vereinsamt unter seinen Zeitgenossen da. und jetzt gehört er
fast schon der Literaturgeschichte an. Michelet ist vielleicht der populärste
Geschichtsschreiber Frankreichs, aber die Wiedergeburt seines Vaterlandes hat
er nicht vorbereitet.


Georg Zelle.


als zwei Kindern nicht bloß in den gebildeten Ständen schon anfangen zu
den Seltenheiten zu gehören. Aber er sieht nicht, daß die Ursache aller dieser
Erscheinungen in dem auf die Spitze getriebenen Individualismus liegt, der
seinerseits eine nothwendige Folge des nivellirenden Gleichheitsprincips ist.
Es liegt in der Natur der Dinge, daß der Einzelne unausgesetzt gegen dies
Princip reagirt; die desorganisirte Gesellschaft — das Ideal der äußersten
und konsequentesten Demokratie, die socialistische Organisation, ist eben noch
nicht durchgeführt — setzt ihm keine Schranken entgegen, die einerseits seiner
Willkür Zügel anlegen und in deren Ueberwindung andererseits eine kräf¬
tige Natur sich zu einer selbständigen, charaktervoller Persönlichkeit entfalten
könnte. Man erkennt nur die eine Schranke an, welche die Staatsgewalt
zieht; ihrem Druck fügt man sich, aber da jedes begabte und strebsame Indi¬
viduum doch lieber Hammer als Ambos sein möchte, so drängt Jeder nach
oben, um eine Stelle in dem ungeheueren Organismus der Negierung einzu¬
nehmen und als Glied der Centralgewalt sein Departement zu beherrschen,
oder den Dorfdespoten zu spielen. So schlägt naturgemäß das Gleichheits¬
princip in sein Gegentheil um. Der Ehrgeiz durchbricht seine Schranken
täglich, aber dieser Ehrgeiz ist eben wegen seines grenzenlosen Egoismus
schlaff und unfähig, starke Charaktere zu erzeugen.

Es liegt eine tiefe Tragik darin, daß der hochbegabte, vom idealsten
Streben erfüllte Mann, „der der vollkommenste Ausdruck des französischen
Genius war", mit seinem in die Tiefe der Seele des Einzelnen, wie des
Volkes dringenden Scharfblick die ganze geistige und moralische Zerrüttung
seiner Nation erkennt, und dabei doch, trotz selner Vertiefung in die Ver¬
gangenheit und Gegenwart seines Volkes, unfähig ist. die Quellen des Uebels
zu erkennen. Ja, er erwartet gerade Genesung von dem berauschenden
Trank, der die Nation in beständigem Wechsel zwischen fieberhafter Erregung
und todtenähnlicher Betäubung hin- und herwirft. Ihm war vielleicht vor
allen seinen Mitarbeitern auf dem Felde der Geschichtsforschung die Gabe
verliehen, Frankreich von dem Abgrund zurückzuziehen, dem es zugetrieben
wird. Aber den Götzen zu verleugnen, dem Frankreich seit Jahrhunderten
Weihrauch gestreut hat, das vermochte er nicht; der Einzige, der dies wagte,
Tocqueville, stand vereinsamt unter seinen Zeitgenossen da. und jetzt gehört er
fast schon der Literaturgeschichte an. Michelet ist vielleicht der populärste
Geschichtsschreiber Frankreichs, aber die Wiedergeburt seines Vaterlandes hat
er nicht vorbereitet.


Georg Zelle.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/501>, abgerufen am 26.05.2024.