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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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dieses Begehrens beruhe die englische Selbstverwaltung, Daraus zog nun der
Minister den Schluß, die Selbstverwaltung könne nur eingeführt werden,
wo in der Bevölkerung das kräftige Begehren danach vorhanden sei. nicht
aber durch bloße Auflegung von Staatswegen.

In dem, was Graf Eulenburg spricht, wird man niemals den bon sons
vermissen. Aber was er hier sagte, war das diametrale Gegentheil von dem
Gedanken Gneist's, der unermüdlich gelehrt hat: die Selbstverwaltung ist zu¬
nächst kein Genuß der Macht, sondern Last, Arbeit und Verantwortlichkeit;
erst an eine langwierige schwere Pflichterfüllung knüpft sich Macht, aber nicht
gegen den Staat, sondern für den Staat durch die Erziehung der Bürger
zum Staatssinn und Staatsdienst. Auf Tod und Leben bekämpft Gneist die
Ansicht, daß man den Staat in die Hände der bürgerlichen Interessen geben
und dort zerbröckeln lassen könne. Wir unternehmen es nicht, die Brücke
über den Gegensatz dieser Ansichten zu schlagen, ohne sie hier unmöglich zu
erklären. Für den Verlauf der in Rede stehenden Debatte blieb dieser Gegen¬
satz übrigens ohne Wirkung. Aber ein noch weit mehr auffallender Gegensatz
trat bei den Ausführungen des Abg. Heinrich v. Sybel hervor. Dieser ver¬
focht den Ausschluß der Rheinprovinz von der Reform wegen der mit der Ein¬
führung der Reform verbundenen politischen Gefahr. Der Minister des Innern
also hatte gesagt: wir können die Selbstverwaltung nicht dorthin ausdehnen,
wo man die Macht, die sie giebt, nicht begehrt. Heinrich von Sybel sagte:
wir dürfen die Selbstverwaltung dorthin nicht ausdehnen, wo man die Macht-
die sie giebt, leidenschaftlich begehrt, um sie gegen den Staat zu gebrauchen-
Das waren noch einmal zwei diametral auseinanderlaufende Urtheile, diesmal
aber über einen factischen Zustand.¬

Sybel's Behauptung von der politischen Gefährlichkeit der Selbstver
waltung in der Rheinprovinz fand den lebhaftesten Widerspruch, nach unserem
ebenso lebhaften Eindruck aber durchaus nicht die richtige Widerlegung. Nicht
immer kann eine Maßregel unterlassen werden, weil sie gefährlich ist, denn
die Unterlassung ist zuweilen noch gefährlicher. Dies scheint uns das Argu¬
ment zu sein, welches hier den Ausschlag geben muß. Die Ableugnung der
Gefahr dagegen, wie sie versucht wurde, scheint uns urtheilslos. Sybel hatte
allerdings die Wirkung seiner Ausführungen sich aufs äußerste erschwert
durch eine Beschränkung, die er. wer weiß warum, für factisch nützlich halten
mochte. Er sprach nämlich nur von den Gefahren der Socialdemokratie in
der Rheinprovinz, welche doch, trotz ihrer localen Stärke kaum in der Lage
ist, sich der Selbstverwaltung zu bemächtigen, wenn dieselbe richtig construirt
wird. Die eigentliche wahre Gefahr in der Rheinprovinz ist, daß dort der
Ultramontanismus sich der Selbstverwaltung bemächtigt. Und dagegen
kann keine Construction der letzteren schützen. Die einzige Hoffnung ist, daß


dieses Begehrens beruhe die englische Selbstverwaltung, Daraus zog nun der
Minister den Schluß, die Selbstverwaltung könne nur eingeführt werden,
wo in der Bevölkerung das kräftige Begehren danach vorhanden sei. nicht
aber durch bloße Auflegung von Staatswegen.

In dem, was Graf Eulenburg spricht, wird man niemals den bon sons
vermissen. Aber was er hier sagte, war das diametrale Gegentheil von dem
Gedanken Gneist's, der unermüdlich gelehrt hat: die Selbstverwaltung ist zu¬
nächst kein Genuß der Macht, sondern Last, Arbeit und Verantwortlichkeit;
erst an eine langwierige schwere Pflichterfüllung knüpft sich Macht, aber nicht
gegen den Staat, sondern für den Staat durch die Erziehung der Bürger
zum Staatssinn und Staatsdienst. Auf Tod und Leben bekämpft Gneist die
Ansicht, daß man den Staat in die Hände der bürgerlichen Interessen geben
und dort zerbröckeln lassen könne. Wir unternehmen es nicht, die Brücke
über den Gegensatz dieser Ansichten zu schlagen, ohne sie hier unmöglich zu
erklären. Für den Verlauf der in Rede stehenden Debatte blieb dieser Gegen¬
satz übrigens ohne Wirkung. Aber ein noch weit mehr auffallender Gegensatz
trat bei den Ausführungen des Abg. Heinrich v. Sybel hervor. Dieser ver¬
focht den Ausschluß der Rheinprovinz von der Reform wegen der mit der Ein¬
führung der Reform verbundenen politischen Gefahr. Der Minister des Innern
also hatte gesagt: wir können die Selbstverwaltung nicht dorthin ausdehnen,
wo man die Macht, die sie giebt, nicht begehrt. Heinrich von Sybel sagte:
wir dürfen die Selbstverwaltung dorthin nicht ausdehnen, wo man die Macht-
die sie giebt, leidenschaftlich begehrt, um sie gegen den Staat zu gebrauchen-
Das waren noch einmal zwei diametral auseinanderlaufende Urtheile, diesmal
aber über einen factischen Zustand.¬

Sybel's Behauptung von der politischen Gefährlichkeit der Selbstver
waltung in der Rheinprovinz fand den lebhaftesten Widerspruch, nach unserem
ebenso lebhaften Eindruck aber durchaus nicht die richtige Widerlegung. Nicht
immer kann eine Maßregel unterlassen werden, weil sie gefährlich ist, denn
die Unterlassung ist zuweilen noch gefährlicher. Dies scheint uns das Argu¬
ment zu sein, welches hier den Ausschlag geben muß. Die Ableugnung der
Gefahr dagegen, wie sie versucht wurde, scheint uns urtheilslos. Sybel hatte
allerdings die Wirkung seiner Ausführungen sich aufs äußerste erschwert
durch eine Beschränkung, die er. wer weiß warum, für factisch nützlich halten
mochte. Er sprach nämlich nur von den Gefahren der Socialdemokratie in
der Rheinprovinz, welche doch, trotz ihrer localen Stärke kaum in der Lage
ist, sich der Selbstverwaltung zu bemächtigen, wenn dieselbe richtig construirt
wird. Die eigentliche wahre Gefahr in der Rheinprovinz ist, daß dort der
Ultramontanismus sich der Selbstverwaltung bemächtigt. Und dagegen
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[0326] dieses Begehrens beruhe die englische Selbstverwaltung, Daraus zog nun der Minister den Schluß, die Selbstverwaltung könne nur eingeführt werden, wo in der Bevölkerung das kräftige Begehren danach vorhanden sei. nicht aber durch bloße Auflegung von Staatswegen. In dem, was Graf Eulenburg spricht, wird man niemals den bon sons vermissen. Aber was er hier sagte, war das diametrale Gegentheil von dem Gedanken Gneist's, der unermüdlich gelehrt hat: die Selbstverwaltung ist zu¬ nächst kein Genuß der Macht, sondern Last, Arbeit und Verantwortlichkeit; erst an eine langwierige schwere Pflichterfüllung knüpft sich Macht, aber nicht gegen den Staat, sondern für den Staat durch die Erziehung der Bürger zum Staatssinn und Staatsdienst. Auf Tod und Leben bekämpft Gneist die Ansicht, daß man den Staat in die Hände der bürgerlichen Interessen geben und dort zerbröckeln lassen könne. Wir unternehmen es nicht, die Brücke über den Gegensatz dieser Ansichten zu schlagen, ohne sie hier unmöglich zu erklären. Für den Verlauf der in Rede stehenden Debatte blieb dieser Gegen¬ satz übrigens ohne Wirkung. Aber ein noch weit mehr auffallender Gegensatz trat bei den Ausführungen des Abg. Heinrich v. Sybel hervor. Dieser ver¬ focht den Ausschluß der Rheinprovinz von der Reform wegen der mit der Ein¬ führung der Reform verbundenen politischen Gefahr. Der Minister des Innern also hatte gesagt: wir können die Selbstverwaltung nicht dorthin ausdehnen, wo man die Macht, die sie giebt, nicht begehrt. Heinrich von Sybel sagte: wir dürfen die Selbstverwaltung dorthin nicht ausdehnen, wo man die Macht- die sie giebt, leidenschaftlich begehrt, um sie gegen den Staat zu gebrauchen- Das waren noch einmal zwei diametral auseinanderlaufende Urtheile, diesmal aber über einen factischen Zustand.¬ Sybel's Behauptung von der politischen Gefährlichkeit der Selbstver waltung in der Rheinprovinz fand den lebhaftesten Widerspruch, nach unserem ebenso lebhaften Eindruck aber durchaus nicht die richtige Widerlegung. Nicht immer kann eine Maßregel unterlassen werden, weil sie gefährlich ist, denn die Unterlassung ist zuweilen noch gefährlicher. Dies scheint uns das Argu¬ ment zu sein, welches hier den Ausschlag geben muß. Die Ableugnung der Gefahr dagegen, wie sie versucht wurde, scheint uns urtheilslos. Sybel hatte allerdings die Wirkung seiner Ausführungen sich aufs äußerste erschwert durch eine Beschränkung, die er. wer weiß warum, für factisch nützlich halten mochte. Er sprach nämlich nur von den Gefahren der Socialdemokratie in der Rheinprovinz, welche doch, trotz ihrer localen Stärke kaum in der Lage ist, sich der Selbstverwaltung zu bemächtigen, wenn dieselbe richtig construirt wird. Die eigentliche wahre Gefahr in der Rheinprovinz ist, daß dort der Ultramontanismus sich der Selbstverwaltung bemächtigt. Und dagegen kann keine Construction der letzteren schützen. Die einzige Hoffnung ist, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/326>, abgerufen am 27.05.2024.