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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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pfindung erregt, zu Lust und Leid, das Alles findet in diesen anspruchslosen
meist vorzeitigen Liedchen seinen oft sehr glücklichen Ausdruck. Und trotz
modernen Nivellements sind diese "RundS,s" weder vergessen noch entbehren
sie eines munteren Nachwuchses; man kann also wirklich von einer lebendigen
Volksdichtung sprechen.

Etwas anders verhält es sich mit den im Vogtlande, gesungenen volks-
thümlichen Kinderliedern. Hier läßt sich keineswegs behaupten, daß sie
alle oder daß nur der größte Theil in der Landschaft entstanden sei; bei
vielen mag dies der Fall sein, die überwiegende Mehrzahl jedoch ist weit über
die Grenzen des Vogtlandes hinaus verbreitet, sie finden sich an der Nordsee
wie in den Alpen und in Siebenbürgen und nur einzelne Wendungen und
Variationen mögen im Vogtlande selbst entstanden sein. Manche sind ohne
Zweifel uralt, allen oder mehreren deutschen Stämmen gemeinsam und mit
ihnen gewandert, andere wieder, jüngeren Ursprungs, haben sich nach und
nach weiter verbreitet, ohne daß ihre Herkunft festzustellen wäre. Zu den
culturhistorisch interessantesten gehören nun .gewiß die Kinderreime mit mytho¬
logischen Hintergrunde. Dazu zählen die Kinderwundsegen, von denen
R.Köhler in seinem fleißigen Buche: "Volksglauben und Aberglauben im Vogt¬
lande" S. 403 ff. eine Menge veröffentlicht hat, Verschen, die im Zusammen¬
hange stehen mit den uralt germanischen Beschwörungsformeln. Noch merk¬
würdiger find Verschen, die bei Spielen aufgesagt werden, und die sich oft
in wenig veränderter Fassung in weit entfernten Gegenden wiederfinden. So
lautet ein Abzählreim:


die eine spinnt Seide,
die andre reibt die Kreide,
die dritte schließt den Himmel auf,
da guckt die Mutter Maria 'raus. [Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]
3. 6. 9.
im Hof steht eine Scheune,
im Garten steht ein Hinterhaus,
da gucken drei gold'ne Jungfrau'" raus,
[Spaltenumbruch]

Diese drei Jungfrauen sind die heidnischen Nornen oder Schicksalsfrauen
die unter andern Namen auch in den Liedchen anderer Landschaften vor¬
kommen. Ein anderer Spielreim lautet:

um zwei kommt's nicht,
um elf da poches,
um zwölf da kommts!
[Ende Spaltensatz]
[Beginn Spaltensatz] Wir woll'n einmal spaziren gehn,
Nenn nur das wilde Thier nicht käm'!
Um eins kommt's nicht, [Spaltenumbruch]

u. s. f.

Dies Liedchen kommt ähnlich auch im Anhalt'schen, und mehr verschieden
auch in andern deutschen Gebieten vor. Auch hier ist der Hintergrund mytho¬
logisch: die 12 Stunden sind die 12 Weltstunden, nach deren Ablauf das
Himmelsgewölbe einbricht, wenn der alles verschlingende Höllenwolf MKnagarm
erscheint. Ein drittes enthält eine deutliche Hinweisung auf das himmlische
Lichtland (England) und kommt in ähnlicher Fassung auch in Franken und
Schwaben vor. Eine Form desselben im Vogtlande lautet:


pfindung erregt, zu Lust und Leid, das Alles findet in diesen anspruchslosen
meist vorzeitigen Liedchen seinen oft sehr glücklichen Ausdruck. Und trotz
modernen Nivellements sind diese „RundS,s" weder vergessen noch entbehren
sie eines munteren Nachwuchses; man kann also wirklich von einer lebendigen
Volksdichtung sprechen.

Etwas anders verhält es sich mit den im Vogtlande, gesungenen volks-
thümlichen Kinderliedern. Hier läßt sich keineswegs behaupten, daß sie
alle oder daß nur der größte Theil in der Landschaft entstanden sei; bei
vielen mag dies der Fall sein, die überwiegende Mehrzahl jedoch ist weit über
die Grenzen des Vogtlandes hinaus verbreitet, sie finden sich an der Nordsee
wie in den Alpen und in Siebenbürgen und nur einzelne Wendungen und
Variationen mögen im Vogtlande selbst entstanden sein. Manche sind ohne
Zweifel uralt, allen oder mehreren deutschen Stämmen gemeinsam und mit
ihnen gewandert, andere wieder, jüngeren Ursprungs, haben sich nach und
nach weiter verbreitet, ohne daß ihre Herkunft festzustellen wäre. Zu den
culturhistorisch interessantesten gehören nun .gewiß die Kinderreime mit mytho¬
logischen Hintergrunde. Dazu zählen die Kinderwundsegen, von denen
R.Köhler in seinem fleißigen Buche: „Volksglauben und Aberglauben im Vogt¬
lande" S. 403 ff. eine Menge veröffentlicht hat, Verschen, die im Zusammen¬
hange stehen mit den uralt germanischen Beschwörungsformeln. Noch merk¬
würdiger find Verschen, die bei Spielen aufgesagt werden, und die sich oft
in wenig veränderter Fassung in weit entfernten Gegenden wiederfinden. So
lautet ein Abzählreim:


die eine spinnt Seide,
die andre reibt die Kreide,
die dritte schließt den Himmel auf,
da guckt die Mutter Maria 'raus. [Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]
3. 6. 9.
im Hof steht eine Scheune,
im Garten steht ein Hinterhaus,
da gucken drei gold'ne Jungfrau'« raus,
[Spaltenumbruch]

Diese drei Jungfrauen sind die heidnischen Nornen oder Schicksalsfrauen
die unter andern Namen auch in den Liedchen anderer Landschaften vor¬
kommen. Ein anderer Spielreim lautet:

um zwei kommt's nicht,
um elf da poches,
um zwölf da kommts!
[Ende Spaltensatz]
[Beginn Spaltensatz] Wir woll'n einmal spaziren gehn,
Nenn nur das wilde Thier nicht käm'!
Um eins kommt's nicht, [Spaltenumbruch]

u. s. f.

Dies Liedchen kommt ähnlich auch im Anhalt'schen, und mehr verschieden
auch in andern deutschen Gebieten vor. Auch hier ist der Hintergrund mytho¬
logisch: die 12 Stunden sind die 12 Weltstunden, nach deren Ablauf das
Himmelsgewölbe einbricht, wenn der alles verschlingende Höllenwolf MKnagarm
erscheint. Ein drittes enthält eine deutliche Hinweisung auf das himmlische
Lichtland (England) und kommt in ähnlicher Fassung auch in Franken und
Schwaben vor. Eine Form desselben im Vogtlande lautet:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/75>, abgerufen am 19.05.2024.