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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Nirgends, auch bet schwierigen Wendungen, legt er seiner heimischen Sprache
Zwang an, nirgends, abgesehen etwa von einigen ganz vereinzelten Stellen
verletzt er die ihr eigenthümlichen Regeln.

Er mußte aber nicht nur die obschon biegsame Sprache förmlich schmelzen
und in andere Form gießen, sondern auch erst eine Schrift erfinden. Zwar
besaßen die Gothen wie bereits erwähnt die Kunst Laute durch Zeichen wie¬
derzugeben. Diese Runen waren aber nicht geeignet zu schneller und um¬
fangreicher Verwendung, sie dienten hauptsächlich zum geheimnisvollen Ge¬
brauche des Looswerfens und der Weissagung und wurden außerdem zur Auf¬
zeichnung kurzer Sprüche auf Holz geritzt. Theils weil Ulfilas durch mög¬
lichste Beibehaltung dieser altehrwürdigen Zeichen die Scheu vor der Bibel
zu vermehren hoffte, theils weil die griechische Schrift die Laute der hei¬
mischen Sprache nicht völlig wiedergab, stellte er durch Verschmelzung dieser
2 Bestandtheile ein neues Alphabet her, welches aus 27 Zeichen be¬
stand. Aus den alten Runen stammen ohne Zweifel die Zeichen für u, i, r,
wahrscheinlich auch andere, dem Griechischen entlehnte er das g, x>, g., <z, K, I, w,
n, t, und gebrauchte, ebenfalls nach griechischem Muster, diese gewonnenen
Buchstaben in bestimmter Reihenfolge als Ziffern. Von da an erst war den
Gothen die Möglichkeit gegeben zu literarischen Erzeugnissen größeren Um¬
fanges und die Anwendung des neuen Alphabets wurde bald so allgemein,
daß sich aus ihm eine noch schneller fließende Cursivschrift für das Alltags-
leben entwickelte, die uns in den gothischen Verkaufsurkunden von Neapel
und Arezzo erhalten ist.

Von dem großen Bibelwerke des Ulfilas besitzen wir nur Bruchstücke,
nämlich den größten Theil der 4 Evangelien und der Paulinischen Briefe, und
vom alten Testament nur wenige Verse von Esra und Nehemia in Hand¬
schriften aus dem 6. Jahrhundert, die vermuthlich sämmtlich in Bobbio,
dem von Columban gestifteten Kloster an der Trebbia vereinigt waren,
jetzt aber nach Upsala. Wolfenbüttel, Turin und Mailand verstreut
sind. Und doch hatten die Gothen eine vollständige Bibelübersetzung, die bis
auf einen kleinen Rest von Ulfilas herrührte, wenn er wirklich nicht der Ver¬
fasser des Ganzen sein sollte. **)




Gabelentz und Löwe: Ulfilas. Prolegomena. Bd. I. S. 26.
'
) Philostorgius berichtet nämlich, daß Ulfilas die Bücher der Könige nicht übersetzt habe,
um durch die Kriegsberichte derselben nicht die Kampflust seiner Gothen zu reizen. Gabelentz
und Lo>^ stimmen dem bei und zeigen nicht übel Lust dem Verdienst des Ulfilas noch weitern
Abbruch ^ thun. Der neuste Herausgeber des Ulfilas jedoch, Ernst Bernhardt, widerspricht
dieser Ansicht entschieden. S. Kritische Untersuchungen über die gold. Bibelübersetzung.
Melnrngen 1864. S. 29. Nur die Bruchstücken aus Esdras und Nehemia haben vielleicht
einen andern Verfasser.

Nirgends, auch bet schwierigen Wendungen, legt er seiner heimischen Sprache
Zwang an, nirgends, abgesehen etwa von einigen ganz vereinzelten Stellen
verletzt er die ihr eigenthümlichen Regeln.

Er mußte aber nicht nur die obschon biegsame Sprache förmlich schmelzen
und in andere Form gießen, sondern auch erst eine Schrift erfinden. Zwar
besaßen die Gothen wie bereits erwähnt die Kunst Laute durch Zeichen wie¬
derzugeben. Diese Runen waren aber nicht geeignet zu schneller und um¬
fangreicher Verwendung, sie dienten hauptsächlich zum geheimnisvollen Ge¬
brauche des Looswerfens und der Weissagung und wurden außerdem zur Auf¬
zeichnung kurzer Sprüche auf Holz geritzt. Theils weil Ulfilas durch mög¬
lichste Beibehaltung dieser altehrwürdigen Zeichen die Scheu vor der Bibel
zu vermehren hoffte, theils weil die griechische Schrift die Laute der hei¬
mischen Sprache nicht völlig wiedergab, stellte er durch Verschmelzung dieser
2 Bestandtheile ein neues Alphabet her, welches aus 27 Zeichen be¬
stand. Aus den alten Runen stammen ohne Zweifel die Zeichen für u, i, r,
wahrscheinlich auch andere, dem Griechischen entlehnte er das g, x>, g., <z, K, I, w,
n, t, und gebrauchte, ebenfalls nach griechischem Muster, diese gewonnenen
Buchstaben in bestimmter Reihenfolge als Ziffern. Von da an erst war den
Gothen die Möglichkeit gegeben zu literarischen Erzeugnissen größeren Um¬
fanges und die Anwendung des neuen Alphabets wurde bald so allgemein,
daß sich aus ihm eine noch schneller fließende Cursivschrift für das Alltags-
leben entwickelte, die uns in den gothischen Verkaufsurkunden von Neapel
und Arezzo erhalten ist.

Von dem großen Bibelwerke des Ulfilas besitzen wir nur Bruchstücke,
nämlich den größten Theil der 4 Evangelien und der Paulinischen Briefe, und
vom alten Testament nur wenige Verse von Esra und Nehemia in Hand¬
schriften aus dem 6. Jahrhundert, die vermuthlich sämmtlich in Bobbio,
dem von Columban gestifteten Kloster an der Trebbia vereinigt waren,
jetzt aber nach Upsala. Wolfenbüttel, Turin und Mailand verstreut
sind. Und doch hatten die Gothen eine vollständige Bibelübersetzung, die bis
auf einen kleinen Rest von Ulfilas herrührte, wenn er wirklich nicht der Ver¬
fasser des Ganzen sein sollte. **)




Gabelentz und Löwe: Ulfilas. Prolegomena. Bd. I. S. 26.
'
) Philostorgius berichtet nämlich, daß Ulfilas die Bücher der Könige nicht übersetzt habe,
um durch die Kriegsberichte derselben nicht die Kampflust seiner Gothen zu reizen. Gabelentz
und Lo>^ stimmen dem bei und zeigen nicht übel Lust dem Verdienst des Ulfilas noch weitern
Abbruch ^ thun. Der neuste Herausgeber des Ulfilas jedoch, Ernst Bernhardt, widerspricht
dieser Ansicht entschieden. S. Kritische Untersuchungen über die gold. Bibelübersetzung.
Melnrngen 1864. S. 29. Nur die Bruchstücken aus Esdras und Nehemia haben vielleicht
einen andern Verfasser.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/15>, abgerufen am 18.05.2024.