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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Am 3. Dez. begann die erste Berathung der Novelle zum Strafgesetzbuch.
Bei dieser Berathung sollte sich nach allgemeiner Erwartung die düstre Wolke,
welche über der diesmaligen Reichslagssession gehangen, entweder entladen
oder verziehen. Was ist nun geschehen? Einige meinen, die Wolke habe sich
verzogen. Diese werden aber, wohl schwerlich mit Unrecht, für Sanguiniker
erklärt. Entladen hat sich die Wolke jedoch auch noch nicht. Sie steht noch
da. Es pflegt so zu gehen mit Gewittern und andern großen Ereignissen,
daß sie sich zur erwarteten Stunde nicht bequemen. Wie kam es, daß die
Wolke sich nicht entlud? Wie am 29. November bet den Steuergesetzen, so
äußerte sich der Reichskanzler auch diesmal: die Entscheidung über das Gesetz
sei nicht die Entscheidung einer Machtfrage, denn das Recht des Reichstags
zur Ablehnung sei unbezweifelt; er hoffe, daß demzufolge die Discussion sich
"confliktfrei" gestalten werde. An diese Aeußerungen vom 29. Nov. und vom
3. Dez. sucht sich ein seltsames Mißverständniß zu knüpfen, das indeß kaum
aufrichtig von irgend einer Seite aufgestellt werden kann. Man sagt nämlich',
wenn der Reichskanzler zugiebt, daß der Reichstag im Recht ist, wenn er ab¬
lehnt, so ist ja alles gut; lehnen wir ab, was uns nicht zusagt. -- Hier
wird, ob geflissentlich oder ungeflissentlich, ein wichtiger Zusatz verschwiegen,
den der Kanzler am 3. Dez. nicht etwa einmal, sondern ungefähr zehn mal
mit allem ersinnlichen Nachdruck ausgesprochen. -- Die Reichsregierung ist
nicht in Meinungsverschiedenheit mit dem Reichstag über den Sinn der Ver¬
fassung oder eines andern Reichsgesetzes. Der Reichstag kann die wichtigen
Vorlagen dieser Session ablehnen. Wenn man unter einem Conflikt vorzugs¬
weise versteht die entgegengesetzte Anwendung des herrschenden Rechts auf einen
wichtigen Fall, so ist kein Conflikt vorhanden, wenn die Reichsregierung er¬
klärt, sie könne nach Ablehnung ihrer Vorlagen oder wenigstens bestimmter
Theile derselben die Geschäfte nicht fortführen. Es giebt ja vergnügte Ge¬
müther, bereit zu sagen: desto besser, so zeigt sich, daß wir die parlamen¬
tarische Regierung haben, machen wir ein Ministerium der Majorirätl Da
aber die gegenwärtige Session die letzte der Mandatsperiode des jetzt fungiren-
den Reichstags ist*), so wäre wohl, von allem Anderen abgesehen, die Bil¬
dung eines Majoritätsministeriums durchaus nicht an der Zeit. Zwischen
den Wünschen des Kanzlers und den Wünschen der jetzigen Neichstagsrnajori-
tät hätte die nächste Reichstagswahl zu entscheiden, bevor von einer Personal¬
änderung in der Reichsregierung die Rede sein könnte. Demnach stellt sich
die Frage so: sollen die Abgeordneten der bisherigen Majorität sich ihren
Wählern präsentiren als Gegner oder als Verbündete der jetzigen Reichsregle-
rung, d. h. soll der in sehr schwierigen Theilen noch unvollendete Bau des



D. Red. ") Das ist nicht richtig. Die Wahlperiode läuft erst Frühjahr 1877 ->v.

Am 3. Dez. begann die erste Berathung der Novelle zum Strafgesetzbuch.
Bei dieser Berathung sollte sich nach allgemeiner Erwartung die düstre Wolke,
welche über der diesmaligen Reichslagssession gehangen, entweder entladen
oder verziehen. Was ist nun geschehen? Einige meinen, die Wolke habe sich
verzogen. Diese werden aber, wohl schwerlich mit Unrecht, für Sanguiniker
erklärt. Entladen hat sich die Wolke jedoch auch noch nicht. Sie steht noch
da. Es pflegt so zu gehen mit Gewittern und andern großen Ereignissen,
daß sie sich zur erwarteten Stunde nicht bequemen. Wie kam es, daß die
Wolke sich nicht entlud? Wie am 29. November bet den Steuergesetzen, so
äußerte sich der Reichskanzler auch diesmal: die Entscheidung über das Gesetz
sei nicht die Entscheidung einer Machtfrage, denn das Recht des Reichstags
zur Ablehnung sei unbezweifelt; er hoffe, daß demzufolge die Discussion sich
„confliktfrei" gestalten werde. An diese Aeußerungen vom 29. Nov. und vom
3. Dez. sucht sich ein seltsames Mißverständniß zu knüpfen, das indeß kaum
aufrichtig von irgend einer Seite aufgestellt werden kann. Man sagt nämlich',
wenn der Reichskanzler zugiebt, daß der Reichstag im Recht ist, wenn er ab¬
lehnt, so ist ja alles gut; lehnen wir ab, was uns nicht zusagt. — Hier
wird, ob geflissentlich oder ungeflissentlich, ein wichtiger Zusatz verschwiegen,
den der Kanzler am 3. Dez. nicht etwa einmal, sondern ungefähr zehn mal
mit allem ersinnlichen Nachdruck ausgesprochen. — Die Reichsregierung ist
nicht in Meinungsverschiedenheit mit dem Reichstag über den Sinn der Ver¬
fassung oder eines andern Reichsgesetzes. Der Reichstag kann die wichtigen
Vorlagen dieser Session ablehnen. Wenn man unter einem Conflikt vorzugs¬
weise versteht die entgegengesetzte Anwendung des herrschenden Rechts auf einen
wichtigen Fall, so ist kein Conflikt vorhanden, wenn die Reichsregierung er¬
klärt, sie könne nach Ablehnung ihrer Vorlagen oder wenigstens bestimmter
Theile derselben die Geschäfte nicht fortführen. Es giebt ja vergnügte Ge¬
müther, bereit zu sagen: desto besser, so zeigt sich, daß wir die parlamen¬
tarische Regierung haben, machen wir ein Ministerium der Majorirätl Da
aber die gegenwärtige Session die letzte der Mandatsperiode des jetzt fungiren-
den Reichstags ist*), so wäre wohl, von allem Anderen abgesehen, die Bil¬
dung eines Majoritätsministeriums durchaus nicht an der Zeit. Zwischen
den Wünschen des Kanzlers und den Wünschen der jetzigen Neichstagsrnajori-
tät hätte die nächste Reichstagswahl zu entscheiden, bevor von einer Personal¬
änderung in der Reichsregierung die Rede sein könnte. Demnach stellt sich
die Frage so: sollen die Abgeordneten der bisherigen Majorität sich ihren
Wählern präsentiren als Gegner oder als Verbündete der jetzigen Reichsregle-
rung, d. h. soll der in sehr schwierigen Theilen noch unvollendete Bau des



D. Red. ») Das ist nicht richtig. Die Wahlperiode läuft erst Frühjahr 1877 ->v.
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[0438] Am 3. Dez. begann die erste Berathung der Novelle zum Strafgesetzbuch. Bei dieser Berathung sollte sich nach allgemeiner Erwartung die düstre Wolke, welche über der diesmaligen Reichslagssession gehangen, entweder entladen oder verziehen. Was ist nun geschehen? Einige meinen, die Wolke habe sich verzogen. Diese werden aber, wohl schwerlich mit Unrecht, für Sanguiniker erklärt. Entladen hat sich die Wolke jedoch auch noch nicht. Sie steht noch da. Es pflegt so zu gehen mit Gewittern und andern großen Ereignissen, daß sie sich zur erwarteten Stunde nicht bequemen. Wie kam es, daß die Wolke sich nicht entlud? Wie am 29. November bet den Steuergesetzen, so äußerte sich der Reichskanzler auch diesmal: die Entscheidung über das Gesetz sei nicht die Entscheidung einer Machtfrage, denn das Recht des Reichstags zur Ablehnung sei unbezweifelt; er hoffe, daß demzufolge die Discussion sich „confliktfrei" gestalten werde. An diese Aeußerungen vom 29. Nov. und vom 3. Dez. sucht sich ein seltsames Mißverständniß zu knüpfen, das indeß kaum aufrichtig von irgend einer Seite aufgestellt werden kann. Man sagt nämlich', wenn der Reichskanzler zugiebt, daß der Reichstag im Recht ist, wenn er ab¬ lehnt, so ist ja alles gut; lehnen wir ab, was uns nicht zusagt. — Hier wird, ob geflissentlich oder ungeflissentlich, ein wichtiger Zusatz verschwiegen, den der Kanzler am 3. Dez. nicht etwa einmal, sondern ungefähr zehn mal mit allem ersinnlichen Nachdruck ausgesprochen. — Die Reichsregierung ist nicht in Meinungsverschiedenheit mit dem Reichstag über den Sinn der Ver¬ fassung oder eines andern Reichsgesetzes. Der Reichstag kann die wichtigen Vorlagen dieser Session ablehnen. Wenn man unter einem Conflikt vorzugs¬ weise versteht die entgegengesetzte Anwendung des herrschenden Rechts auf einen wichtigen Fall, so ist kein Conflikt vorhanden, wenn die Reichsregierung er¬ klärt, sie könne nach Ablehnung ihrer Vorlagen oder wenigstens bestimmter Theile derselben die Geschäfte nicht fortführen. Es giebt ja vergnügte Ge¬ müther, bereit zu sagen: desto besser, so zeigt sich, daß wir die parlamen¬ tarische Regierung haben, machen wir ein Ministerium der Majorirätl Da aber die gegenwärtige Session die letzte der Mandatsperiode des jetzt fungiren- den Reichstags ist*), so wäre wohl, von allem Anderen abgesehen, die Bil¬ dung eines Majoritätsministeriums durchaus nicht an der Zeit. Zwischen den Wünschen des Kanzlers und den Wünschen der jetzigen Neichstagsrnajori- tät hätte die nächste Reichstagswahl zu entscheiden, bevor von einer Personal¬ änderung in der Reichsregierung die Rede sein könnte. Demnach stellt sich die Frage so: sollen die Abgeordneten der bisherigen Majorität sich ihren Wählern präsentiren als Gegner oder als Verbündete der jetzigen Reichsregle- rung, d. h. soll der in sehr schwierigen Theilen noch unvollendete Bau des D. Red. ») Das ist nicht richtig. Die Wahlperiode läuft erst Frühjahr 1877 ->v.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/438>, abgerufen am 16.06.2024.