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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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"Die Engländer verstehen sich besser auf das parlamentarische Regiment
und die praktischen Freiheiten als die Franzosen. Ist das der Einfluß des
Blutes? Ich glaube nicht; denn bis zum sechzehnten Jahrhundert hatte
Frankreich provinzielle Freiheiten, die den englischen Freiheiten sehr ähnlich
waren. --- Wenn man sieht, wie die Protestanten lateinischer Race germa¬
nische Bevölkerungen katholischen Bekenntnisses überflügeln, wenn man bemerkt,
wie in demselben Lande, demselben Volks- und Sprachkreise die Reformirten
raschere und regelmäßigere Fortschritte machen als die Katholischen, so fällt
es schwer, die Ueberlegenheit der einen über die andern einer anderen Ursache
zuzuschreiben, als dem Bekenntnisse. Die Schotten (des Nordens) und die Ir-
länder sind anerkanntermaßen keltischen Ursprungs. Beide sind von den Englän¬
dern unterworfen worden. Im frühen Mittelalter war das grüne Erin viel
civilisirter als Schottland, jenes war ein Herd der Gesittung, dieses noch eine
Wohnstätte von Barbaren. Seit die Schotten sich der Reformation ange¬
schlossen haben, haben sie sogar die Engländer überholt. Klima und Natur
des Bodens stellten sich dem entgegen, aber Macaulay zeigt, daß die Schotten
seit dem siebzehnten Jahrhundert die südlichen Nachbarn in allen Beziehungen
überflügeln. Irland Vagegen, dem Ultramontanismus ergeben, arm, verkommen,
vom Geiste der Rebellion bewegt, scheint unfähig, sich durch eigne Kraft aus
seinem Elend herauszuhelfen. Welch ein Unterschied in Irland selbst zwischen
dem ausschließlich katholischen Connaught und dem vorwiegend protestantischen
Ulster: hier ein durch Gewerbfleiß bereichertes Land, dort das Bild des tief¬
sten menschlichen Elends.

Gehen wir in die Schweiz und vergleichen wir die Lage der Kantone
Neuchatel, Waadt und Genf, die von französischen Protestanten bewohnt sind,
mit der von Wallis, Luzern und den Waldcantonen, wo der Katholicismus
herrscht. Die ersteren sind den letzteren in allen Stücken, in Bezug auf Bil¬
dung und Unterricht, auf Literatur, auf schöne Künste, auf Gewerbfleiß, auf
Handel, auf Reichthum, auf Gesittung ganz außerordentlich überlegen. Ver¬
setzen wir uns in den durchweg von Deutschen bewohnten Kanton Appenzell,
so finden wir zwischen dem katholischen Immer-Rhoden und dem protestanti¬
schen Außer-Rhoden denselben Contrast wie zwischen den Bewohnern von Uri
und denen von Neuchatel. Auf der einen Seite Unbildung, Hangen am Her¬
kommen, Trägheit und Armuth, auf der andern gute Schulen, rühriges
Streben, Gewerbefleiß, Verkehr mit der Außenwelt und infolge dessen
Wohlstand."

Dem könnte man freilich Böhmen entgegenhalten. Ganz Böhmen ist
katholisch, der Nordrand deutsch, der Süden fast durchweg tschechisch, jener in¬
dustriereich, gesittet und wohlhabend, dieser vielfach trag, halb wild in Betreff
von Bräuchen und Lebensgewohnheiten und trotz trefflichen Bodens Vergleichs-


„Die Engländer verstehen sich besser auf das parlamentarische Regiment
und die praktischen Freiheiten als die Franzosen. Ist das der Einfluß des
Blutes? Ich glaube nicht; denn bis zum sechzehnten Jahrhundert hatte
Frankreich provinzielle Freiheiten, die den englischen Freiheiten sehr ähnlich
waren. —- Wenn man sieht, wie die Protestanten lateinischer Race germa¬
nische Bevölkerungen katholischen Bekenntnisses überflügeln, wenn man bemerkt,
wie in demselben Lande, demselben Volks- und Sprachkreise die Reformirten
raschere und regelmäßigere Fortschritte machen als die Katholischen, so fällt
es schwer, die Ueberlegenheit der einen über die andern einer anderen Ursache
zuzuschreiben, als dem Bekenntnisse. Die Schotten (des Nordens) und die Ir-
länder sind anerkanntermaßen keltischen Ursprungs. Beide sind von den Englän¬
dern unterworfen worden. Im frühen Mittelalter war das grüne Erin viel
civilisirter als Schottland, jenes war ein Herd der Gesittung, dieses noch eine
Wohnstätte von Barbaren. Seit die Schotten sich der Reformation ange¬
schlossen haben, haben sie sogar die Engländer überholt. Klima und Natur
des Bodens stellten sich dem entgegen, aber Macaulay zeigt, daß die Schotten
seit dem siebzehnten Jahrhundert die südlichen Nachbarn in allen Beziehungen
überflügeln. Irland Vagegen, dem Ultramontanismus ergeben, arm, verkommen,
vom Geiste der Rebellion bewegt, scheint unfähig, sich durch eigne Kraft aus
seinem Elend herauszuhelfen. Welch ein Unterschied in Irland selbst zwischen
dem ausschließlich katholischen Connaught und dem vorwiegend protestantischen
Ulster: hier ein durch Gewerbfleiß bereichertes Land, dort das Bild des tief¬
sten menschlichen Elends.

Gehen wir in die Schweiz und vergleichen wir die Lage der Kantone
Neuchatel, Waadt und Genf, die von französischen Protestanten bewohnt sind,
mit der von Wallis, Luzern und den Waldcantonen, wo der Katholicismus
herrscht. Die ersteren sind den letzteren in allen Stücken, in Bezug auf Bil¬
dung und Unterricht, auf Literatur, auf schöne Künste, auf Gewerbfleiß, auf
Handel, auf Reichthum, auf Gesittung ganz außerordentlich überlegen. Ver¬
setzen wir uns in den durchweg von Deutschen bewohnten Kanton Appenzell,
so finden wir zwischen dem katholischen Immer-Rhoden und dem protestanti¬
schen Außer-Rhoden denselben Contrast wie zwischen den Bewohnern von Uri
und denen von Neuchatel. Auf der einen Seite Unbildung, Hangen am Her¬
kommen, Trägheit und Armuth, auf der andern gute Schulen, rühriges
Streben, Gewerbefleiß, Verkehr mit der Außenwelt und infolge dessen
Wohlstand."

Dem könnte man freilich Böhmen entgegenhalten. Ganz Böhmen ist
katholisch, der Nordrand deutsch, der Süden fast durchweg tschechisch, jener in¬
dustriereich, gesittet und wohlhabend, dieser vielfach trag, halb wild in Betreff
von Bräuchen und Lebensgewohnheiten und trotz trefflichen Bodens Vergleichs-


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[0046] „Die Engländer verstehen sich besser auf das parlamentarische Regiment und die praktischen Freiheiten als die Franzosen. Ist das der Einfluß des Blutes? Ich glaube nicht; denn bis zum sechzehnten Jahrhundert hatte Frankreich provinzielle Freiheiten, die den englischen Freiheiten sehr ähnlich waren. —- Wenn man sieht, wie die Protestanten lateinischer Race germa¬ nische Bevölkerungen katholischen Bekenntnisses überflügeln, wenn man bemerkt, wie in demselben Lande, demselben Volks- und Sprachkreise die Reformirten raschere und regelmäßigere Fortschritte machen als die Katholischen, so fällt es schwer, die Ueberlegenheit der einen über die andern einer anderen Ursache zuzuschreiben, als dem Bekenntnisse. Die Schotten (des Nordens) und die Ir- länder sind anerkanntermaßen keltischen Ursprungs. Beide sind von den Englän¬ dern unterworfen worden. Im frühen Mittelalter war das grüne Erin viel civilisirter als Schottland, jenes war ein Herd der Gesittung, dieses noch eine Wohnstätte von Barbaren. Seit die Schotten sich der Reformation ange¬ schlossen haben, haben sie sogar die Engländer überholt. Klima und Natur des Bodens stellten sich dem entgegen, aber Macaulay zeigt, daß die Schotten seit dem siebzehnten Jahrhundert die südlichen Nachbarn in allen Beziehungen überflügeln. Irland Vagegen, dem Ultramontanismus ergeben, arm, verkommen, vom Geiste der Rebellion bewegt, scheint unfähig, sich durch eigne Kraft aus seinem Elend herauszuhelfen. Welch ein Unterschied in Irland selbst zwischen dem ausschließlich katholischen Connaught und dem vorwiegend protestantischen Ulster: hier ein durch Gewerbfleiß bereichertes Land, dort das Bild des tief¬ sten menschlichen Elends. Gehen wir in die Schweiz und vergleichen wir die Lage der Kantone Neuchatel, Waadt und Genf, die von französischen Protestanten bewohnt sind, mit der von Wallis, Luzern und den Waldcantonen, wo der Katholicismus herrscht. Die ersteren sind den letzteren in allen Stücken, in Bezug auf Bil¬ dung und Unterricht, auf Literatur, auf schöne Künste, auf Gewerbfleiß, auf Handel, auf Reichthum, auf Gesittung ganz außerordentlich überlegen. Ver¬ setzen wir uns in den durchweg von Deutschen bewohnten Kanton Appenzell, so finden wir zwischen dem katholischen Immer-Rhoden und dem protestanti¬ schen Außer-Rhoden denselben Contrast wie zwischen den Bewohnern von Uri und denen von Neuchatel. Auf der einen Seite Unbildung, Hangen am Her¬ kommen, Trägheit und Armuth, auf der andern gute Schulen, rühriges Streben, Gewerbefleiß, Verkehr mit der Außenwelt und infolge dessen Wohlstand." Dem könnte man freilich Böhmen entgegenhalten. Ganz Böhmen ist katholisch, der Nordrand deutsch, der Süden fast durchweg tschechisch, jener in¬ dustriereich, gesittet und wohlhabend, dieser vielfach trag, halb wild in Betreff von Bräuchen und Lebensgewohnheiten und trotz trefflichen Bodens Vergleichs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/46>, abgerufen am 24.05.2024.