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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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sind bereits am Werke, das kaum aufgerichtete Gebäude der politischen Frei¬
heiten- zu untergraben, ganz wie das seit 1840 in Belgien der Fall ist.
"Wir haben geglaubt", so sagte einer der Urheber der belgischen Verfassung
kürzlich zu unserm Essayisten, "daß es, um die Freiheit zu gründen, genüge,
sie unter Trennung der Kirche vom Staate zu proclamiren. Ich fange an,
zu glauben, daß wir uns getäuscht haben. Die Kirche strebt, gestützt auf das
Landvolk, ihre unbeschränkte Herrschaft geltend zu machen. Die großen
Städte, den modernen Ideen gewonnen, werden sich gegen die Knechtung ver¬
theidigen. Wir treiben einem Bürgerkriege entgegen wie Frankreich." Das
heißt kaum, zu trüb sehen. Die letzten Wahlen für die belgischen Kammern
haben die clericale, die Gemeindewahlen haben die liberale -Partei in den
großen Städten gestärkt. Der Antagonismus zwischen Stadt und Land tritt
in ganz Belgien immer deutlicher hervor. So lange kluge Leute am Ruder
stehen, die mehr geneigt sind, dem Lande als den Bischöfen zu dienen, sind
ernste Störungen nicht zu fürchten. Sollten aber die Fanatiker, die den
Syllabus zu ihrem politischen Programm gemacht haben, zur Regierung ge¬
langen, so können furchtbare Zusammenstöße nicht ausbleiben.

Die katholischen Länder sind also die Beute innerer Kämpfe, die ihre
Kräfte aufzehren oder sie mindestens hindern, so regelmäßig und so rasch fort¬
zuschreiten wie die protestantischen Völker. Vor zweihundert Jahren gehörte die
Suprematie unbestritten den katholischen Staaten, die andern waren, etwa von
den Niederlanden abgesehen, Mächte zweiten Ranges. Heutzutage ist das
Uebergewicht, wenn wir in die eine Wagschale das Deutsche Reich, Rußland,
England und Nordamerika und in die andere Frankreich, Spanien, Italien,
Oesterreich und Südamerika werfen, offenbar auf die Häretiker und Schisma¬
tiker übergegangen. 1700 stellte Frankreich nach Levasseur 31, jetzt stellt es
nur 18 Procent der Kraft der sechs europäischen Großmächte dar.

Es steht also fest, daß der Protestantismus der Wohlfahrt der Völker
günstiger ist als der Katholicismus. Was ist aber die Ursache dieser
Erscheinung?

Alle Welt giebt heutzutage zu, daß die Verbreitung von Bildung die
erste Bedingung des Fortschritts ist. Die Arbeit ist um so viel ergiebiger,
als sie von Kenntniß und Umsicht begleitet ist. Die Anwendung der Wissen¬
schaft auf die Produktion ist's, was den civilisirten Menschen reich werden
läßt. Sodann aber ist für die Ausübung der verfassungsmäßigen Freiheiten
allgemein verbreitete Bildung ebenso unumgänglich nothwendig. Die Macht
geht in konstitutionellen Ländern mehr oder minder aus den Wahlen hervor,
und die Wähler müssen wenigstens eine gewisse Bildung haben, um nach ihrem
wahren Interesse wählen zu können. Andernfalls werden sie abhängig vom
Egoismus Anderer, und das Land bekommt eine schlechte Regierung und geht


sind bereits am Werke, das kaum aufgerichtete Gebäude der politischen Frei¬
heiten- zu untergraben, ganz wie das seit 1840 in Belgien der Fall ist.
„Wir haben geglaubt", so sagte einer der Urheber der belgischen Verfassung
kürzlich zu unserm Essayisten, „daß es, um die Freiheit zu gründen, genüge,
sie unter Trennung der Kirche vom Staate zu proclamiren. Ich fange an,
zu glauben, daß wir uns getäuscht haben. Die Kirche strebt, gestützt auf das
Landvolk, ihre unbeschränkte Herrschaft geltend zu machen. Die großen
Städte, den modernen Ideen gewonnen, werden sich gegen die Knechtung ver¬
theidigen. Wir treiben einem Bürgerkriege entgegen wie Frankreich." Das
heißt kaum, zu trüb sehen. Die letzten Wahlen für die belgischen Kammern
haben die clericale, die Gemeindewahlen haben die liberale -Partei in den
großen Städten gestärkt. Der Antagonismus zwischen Stadt und Land tritt
in ganz Belgien immer deutlicher hervor. So lange kluge Leute am Ruder
stehen, die mehr geneigt sind, dem Lande als den Bischöfen zu dienen, sind
ernste Störungen nicht zu fürchten. Sollten aber die Fanatiker, die den
Syllabus zu ihrem politischen Programm gemacht haben, zur Regierung ge¬
langen, so können furchtbare Zusammenstöße nicht ausbleiben.

Die katholischen Länder sind also die Beute innerer Kämpfe, die ihre
Kräfte aufzehren oder sie mindestens hindern, so regelmäßig und so rasch fort¬
zuschreiten wie die protestantischen Völker. Vor zweihundert Jahren gehörte die
Suprematie unbestritten den katholischen Staaten, die andern waren, etwa von
den Niederlanden abgesehen, Mächte zweiten Ranges. Heutzutage ist das
Uebergewicht, wenn wir in die eine Wagschale das Deutsche Reich, Rußland,
England und Nordamerika und in die andere Frankreich, Spanien, Italien,
Oesterreich und Südamerika werfen, offenbar auf die Häretiker und Schisma¬
tiker übergegangen. 1700 stellte Frankreich nach Levasseur 31, jetzt stellt es
nur 18 Procent der Kraft der sechs europäischen Großmächte dar.

Es steht also fest, daß der Protestantismus der Wohlfahrt der Völker
günstiger ist als der Katholicismus. Was ist aber die Ursache dieser
Erscheinung?

Alle Welt giebt heutzutage zu, daß die Verbreitung von Bildung die
erste Bedingung des Fortschritts ist. Die Arbeit ist um so viel ergiebiger,
als sie von Kenntniß und Umsicht begleitet ist. Die Anwendung der Wissen¬
schaft auf die Produktion ist's, was den civilisirten Menschen reich werden
läßt. Sodann aber ist für die Ausübung der verfassungsmäßigen Freiheiten
allgemein verbreitete Bildung ebenso unumgänglich nothwendig. Die Macht
geht in konstitutionellen Ländern mehr oder minder aus den Wahlen hervor,
und die Wähler müssen wenigstens eine gewisse Bildung haben, um nach ihrem
wahren Interesse wählen zu können. Andernfalls werden sie abhängig vom
Egoismus Anderer, und das Land bekommt eine schlechte Regierung und geht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/50>, abgerufen am 24.05.2024.