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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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dem Ruin entgegen. Der Unterricht ist somit die Grundlage der Freiheit und
des Gedeihens der Völker. Nun aber sind die protestantischen oder doch stark
vom Protestantismus beeinflußten Staaten bis auf den heutigen Tag die
einzigen, welche Allen den Unterricht gesichert haben. Wenn das von England
nicht gilt, so mag es daher rühren, daß die anglicanische Kirche sich nicht so weit
von Rom entfernt hat als die übrigen Formen des Protestantismus. Die andern
Protestantischen Staaten weisen nur wenige Erwachsene auf, die ohne Elemen¬
tarkenntnisse sind, in den katholischen bilden diese Ignoranten einen starken
Procentsatz, in Belgien und Frankreich z. B. wenigstens ein Drittel, in Spa¬
nien und Portugal sogar dreiviertel der Bevölkerung. Die Ursache dieses
Contrastes liegt auf der Hand. Der Protestantismus beruht in wesentlichen
Stücken auf einem Buche, auf der Bibel, der Protestant muß also lesen kön¬
nen. So war das erste und letzte Wort Luther's: Lehret die Kinder, das ist
die Schuldigkeit der Eltern und Obrigkeiten, das ist das Gebot Gottes. Der
katholische Cultus dagegen beruht auf den Sacramenten und gewissen Bräu¬
chen, der Beichte, der Messe, der Heiligenverehrung, zu denen man das Lesen
nicht nöthig hat. Dasselbe ist sogar schädlich und gefährlich; denn es er¬
schüttert nothwendig den passiven Gehorsam, auf den das ganze katholische
Gebäude gegründet ist; die Lectüre ist der Weg, der zur Ketzerei führt. Die
Folge ist, daß der katholische Priester, wo er nicht, wie in der alten guten Zeit
in Deutschland, von protestantischen Einwirkungen beeinflußt ist. dem Unter¬
richt im Grunde des Herzens feindselig sein oder sich doch nicht in dem
Maße wie der protestantische Pastor bemühen wird, für seine Verbreitung zu
sorgen.

Alle Welt ist ferner darin einverstanden, daß die Kraft der Nationen von
ihrer Sittlichkeit abhängt. Wo die Sitten der Verderbniß anheimfallen, ist
der Staat verloren. Nun aber scheint ausgemachte Thatsache zu sein, daß
das moralische Niveau bei den protestantischen Völkern erheblich höher steht,
als bei den katholischen. Man lese die literarischen Erzeugnisse Frankreichs,
"^n wohne in den Theatern den besonders beliebten Stücken bei: fast im¬
mer liegt ihnen Lüderlichkeit und Ehebruch zu Grunde, sodaß man diese Ro¬
mane und Komödien streng von dem Kreise der Familie fern zu halten ge-
"üthigt ist. In Deutschland und England ist es nicht so. Die Werke der
Dichtung, in denen hier nicht das Ausland nachgeahmt ist, haben einen Ton
und Stil, vor dem keusche Ohren nicht zurückzuschrecken brauchen.

In den katholischen Ländern haben die, welche die Allmacht der Kirche
ZU bekämpfen strebten, ihre Waffen nicht wie die alten Protestanten dem
Evangelium entnommen, sondern sie sich vom Geiste der Renaissance und des
Heidenthums geliehen. Man kann die Kirche auf zweierlei Art angreifen:
dadurch, daß man zeigt, daß sie sich vom Geiste Christi entfernt hat. und


dem Ruin entgegen. Der Unterricht ist somit die Grundlage der Freiheit und
des Gedeihens der Völker. Nun aber sind die protestantischen oder doch stark
vom Protestantismus beeinflußten Staaten bis auf den heutigen Tag die
einzigen, welche Allen den Unterricht gesichert haben. Wenn das von England
nicht gilt, so mag es daher rühren, daß die anglicanische Kirche sich nicht so weit
von Rom entfernt hat als die übrigen Formen des Protestantismus. Die andern
Protestantischen Staaten weisen nur wenige Erwachsene auf, die ohne Elemen¬
tarkenntnisse sind, in den katholischen bilden diese Ignoranten einen starken
Procentsatz, in Belgien und Frankreich z. B. wenigstens ein Drittel, in Spa¬
nien und Portugal sogar dreiviertel der Bevölkerung. Die Ursache dieses
Contrastes liegt auf der Hand. Der Protestantismus beruht in wesentlichen
Stücken auf einem Buche, auf der Bibel, der Protestant muß also lesen kön¬
nen. So war das erste und letzte Wort Luther's: Lehret die Kinder, das ist
die Schuldigkeit der Eltern und Obrigkeiten, das ist das Gebot Gottes. Der
katholische Cultus dagegen beruht auf den Sacramenten und gewissen Bräu¬
chen, der Beichte, der Messe, der Heiligenverehrung, zu denen man das Lesen
nicht nöthig hat. Dasselbe ist sogar schädlich und gefährlich; denn es er¬
schüttert nothwendig den passiven Gehorsam, auf den das ganze katholische
Gebäude gegründet ist; die Lectüre ist der Weg, der zur Ketzerei führt. Die
Folge ist, daß der katholische Priester, wo er nicht, wie in der alten guten Zeit
in Deutschland, von protestantischen Einwirkungen beeinflußt ist. dem Unter¬
richt im Grunde des Herzens feindselig sein oder sich doch nicht in dem
Maße wie der protestantische Pastor bemühen wird, für seine Verbreitung zu
sorgen.

Alle Welt ist ferner darin einverstanden, daß die Kraft der Nationen von
ihrer Sittlichkeit abhängt. Wo die Sitten der Verderbniß anheimfallen, ist
der Staat verloren. Nun aber scheint ausgemachte Thatsache zu sein, daß
das moralische Niveau bei den protestantischen Völkern erheblich höher steht,
als bei den katholischen. Man lese die literarischen Erzeugnisse Frankreichs,
"^n wohne in den Theatern den besonders beliebten Stücken bei: fast im¬
mer liegt ihnen Lüderlichkeit und Ehebruch zu Grunde, sodaß man diese Ro¬
mane und Komödien streng von dem Kreise der Familie fern zu halten ge-
"üthigt ist. In Deutschland und England ist es nicht so. Die Werke der
Dichtung, in denen hier nicht das Ausland nachgeahmt ist, haben einen Ton
und Stil, vor dem keusche Ohren nicht zurückzuschrecken brauchen.

In den katholischen Ländern haben die, welche die Allmacht der Kirche
ZU bekämpfen strebten, ihre Waffen nicht wie die alten Protestanten dem
Evangelium entnommen, sondern sie sich vom Geiste der Renaissance und des
Heidenthums geliehen. Man kann die Kirche auf zweierlei Art angreifen:
dadurch, daß man zeigt, daß sie sich vom Geiste Christi entfernt hat. und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/51>, abgerufen am 17.06.2024.