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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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andere der innerhalb der Enceinte liegenden Anhöhen die ungeheure Stadt
beherrscht, an den zugleich sich die merkwürdigsten Erinnerungen knüpfen,
von dem Martyrium des heil. Dionys bis herab auf die Ermordung der
Generale Lecomte und Thomas, mit welcher Greuelthat am 18. März 1871
das Signal zum Communeaufstande gegeben ward -- auf diesem Punkte,
hart über den belebtesten und glänzendsten Stadtvierteln, wird sich über kurz
oder lang das stolze Gebäude erheben, das seiner Entstehung nach einen Hohn
bedeutet auf die gesammte moderne Civilisation und späteren Geschlechtern
vielleicht als das traurigste Denkmal des geistigen Verfalls der Nation
Voltaire's und Rousseau's, der Enkel der "großen Revolution" gelten wird. --
Daß übrigens der heilige Charakter, der dem Montmartre seit dem 16. Juli
nun doppelt und dreifach anhaftet, auf die Bewohner desselben noch ziemlich
einflußlos geblieben ist, wurde mir in anmuthig-drastischer Weise klar ge¬
macht. Während ich die äußere Construction der Peterskirche, einer aus dem
12. Jahrhundert stammenden Wallfahrtskirche betrachtete, trällerte im offenen
Fenster eines benachbarten Hauses eine reizende "pstite dlaneniLSkuse" ein
schalkhaft Liedlein, dessen Refrain lautete:


Lar e'sse 1s möillsur in^ri,
I^s in"!'i <lui xas spouss.

Mir scheint, hinter diesem Verschen verbirgt sich eine Sinnesrichtung, die zu
der Weihung vom 16. Juli wohl jeder verwandtschaftlichen Beziehung er¬
mangelt. Sollte jedoch ein der Mysterien der Marie Alacoque Kundiger des
Liedchens dunklen Sinn weniger weltlich zu deuten im Stande sein, so bin
ich gern bereit, mich belehren zu lassen.

Indeß, dies nebenbei. So frivol die Pariser Bevölkerung im Allge¬
meinen sein mag. so hat doch die Kirche eine ungeheure Macht über sie. In
den höheren Ständen ist es stehende Regel, daß, während der Mann rationa¬
listisch denkt, die Frau bigot ist. Zu jeder Tageszeit, besonders natürlich
zu den Stunden der Messe, begegnet man in den Pariser Kirchen einer auf¬
fallenden Anzahl elegant gekleideter Damen; vor Se. Roch, der von den
Damen der Aristokratie am eifrigsten besuchten Kirche, drängen sich am Sonn¬
tag die Equipagen in langen Reihen. Aber auch in den unteren Schichten ist
der antikirchliche Geist keineswegs so weit verbreitet, beziehungsweise so ent¬
schieden zum Durchbruch gekommen, wie man nach der bestialischer Behand¬
lung der Priester unter der Commune eigentlich erwarten sollte. In dem
verrufensten Arbeiterviertel der ganzen Stadt, in Belleville, erhebt sich die
schönste von sämmtlichen neueren Kirchen in Paris. Bezeichnender aber noch
sind die Erfahrungen, welche man auf den Friedhöfen dieser Vorstädte machen
kann. Von der feierlichen Pracht des Pere Lachaise und ähnlicher klassischer
Begräbnißstätten ist da freilich nichts zu bemerken; höchstens in der Mitte


andere der innerhalb der Enceinte liegenden Anhöhen die ungeheure Stadt
beherrscht, an den zugleich sich die merkwürdigsten Erinnerungen knüpfen,
von dem Martyrium des heil. Dionys bis herab auf die Ermordung der
Generale Lecomte und Thomas, mit welcher Greuelthat am 18. März 1871
das Signal zum Communeaufstande gegeben ward — auf diesem Punkte,
hart über den belebtesten und glänzendsten Stadtvierteln, wird sich über kurz
oder lang das stolze Gebäude erheben, das seiner Entstehung nach einen Hohn
bedeutet auf die gesammte moderne Civilisation und späteren Geschlechtern
vielleicht als das traurigste Denkmal des geistigen Verfalls der Nation
Voltaire's und Rousseau's, der Enkel der „großen Revolution" gelten wird. —
Daß übrigens der heilige Charakter, der dem Montmartre seit dem 16. Juli
nun doppelt und dreifach anhaftet, auf die Bewohner desselben noch ziemlich
einflußlos geblieben ist, wurde mir in anmuthig-drastischer Weise klar ge¬
macht. Während ich die äußere Construction der Peterskirche, einer aus dem
12. Jahrhundert stammenden Wallfahrtskirche betrachtete, trällerte im offenen
Fenster eines benachbarten Hauses eine reizende „pstite dlaneniLSkuse" ein
schalkhaft Liedlein, dessen Refrain lautete:


Lar e'sse 1s möillsur in^ri,
I^s in»!'i <lui xas spouss.

Mir scheint, hinter diesem Verschen verbirgt sich eine Sinnesrichtung, die zu
der Weihung vom 16. Juli wohl jeder verwandtschaftlichen Beziehung er¬
mangelt. Sollte jedoch ein der Mysterien der Marie Alacoque Kundiger des
Liedchens dunklen Sinn weniger weltlich zu deuten im Stande sein, so bin
ich gern bereit, mich belehren zu lassen.

Indeß, dies nebenbei. So frivol die Pariser Bevölkerung im Allge¬
meinen sein mag. so hat doch die Kirche eine ungeheure Macht über sie. In
den höheren Ständen ist es stehende Regel, daß, während der Mann rationa¬
listisch denkt, die Frau bigot ist. Zu jeder Tageszeit, besonders natürlich
zu den Stunden der Messe, begegnet man in den Pariser Kirchen einer auf¬
fallenden Anzahl elegant gekleideter Damen; vor Se. Roch, der von den
Damen der Aristokratie am eifrigsten besuchten Kirche, drängen sich am Sonn¬
tag die Equipagen in langen Reihen. Aber auch in den unteren Schichten ist
der antikirchliche Geist keineswegs so weit verbreitet, beziehungsweise so ent¬
schieden zum Durchbruch gekommen, wie man nach der bestialischer Behand¬
lung der Priester unter der Commune eigentlich erwarten sollte. In dem
verrufensten Arbeiterviertel der ganzen Stadt, in Belleville, erhebt sich die
schönste von sämmtlichen neueren Kirchen in Paris. Bezeichnender aber noch
sind die Erfahrungen, welche man auf den Friedhöfen dieser Vorstädte machen
kann. Von der feierlichen Pracht des Pere Lachaise und ähnlicher klassischer
Begräbnißstätten ist da freilich nichts zu bemerken; höchstens in der Mitte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/514>, abgerufen am 17.06.2024.