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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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gerissenen Seele: O I Wundervoll! -- Welch ein Ausdruck! -- Welche'Anmuth
in der Haltung! -- Welche Würde! -- Welche fehlerfreie Zeichnung! -- Welch eine
beispiellose Farbenpracht! -- Wie viel Gefühl! -- Was für eine Erhabenheit der
Auffassung! -- Was für eine zarte Pinselführung! Ich beneide diese Leute um
ihre aufrichtige Bewunderung, wenn sie aufrichtig ist, um ihr Entzücken, wenn
sie Entzücken empfinden. Ich hege keinerlei Animosität gegen irgend einen
von ihnen. Aber doch will sich mir der Gedanke aufdrängen: wie können
sie sehen, was nicht sichtbar ist? Was würde man von jemand denken, der
eine verschrumpfte, blinde, zahnlose, pockennarbige Kleopatra ansahe und
sagte: Welche beispiellose Schönheit! Wie viel Seele! Wie viel Ausdruck!
Was würde man von jemand meinen, der auf einen trüben nebligen Sonnen¬
untergang hinblickte und ausriefe: Was für ein erhabener Anblick! Wie
ergreifend! Welch eine reiche Farbenpracht! Was würde man von einem
Menschen halten, der auf eine Wüste mit Baumstämmen hinstarrte und
sagte: O meine Seele, mein klopfendes Herz, was ist das für ein edler Wald!
-- Man würde denken, daß diese Leute doch ein erstaunliches Talent hätten,
Dinge zu sehen, die bereits dahin gegangen sind. Das war's denn auch, was
ich dachte, als ich vor dem Abendmahle stand und Leute Wunder, Schön¬
heiten und Vollkommenheiten begeisterungsooll anreden hörte, die aus dem
Bilde schon hundert Jahre vor ihrer Geburt entwichen waren. Wir können
uns die Schönheit vorstellen, die einst in einem jetzt bejahrten Gesichte
lag, wir können uns den Wald denken, wenn wir die Stümpfe sehen,
aber es ist absolut unmöglich, daß wir diese Dinge sehen, wenn sie nicht da
sind. Ich glaube gern, daß das Auge eines geübten Künstlers auf dem
Abendmahle ruhen und ein Lüstre wiederaufleuchten lassen kann, wo nur
noch eine Andeutung davon übrig ist, daß es eine Farbe, die verblichen ist,
ergänzen, einen Ausdruck, der verschwunden ist, wiederherstellen, daß es an
der nachgedunkelten Leinwand flicken, färben und hinzufügen kann, bis zuletzt
ihre Figuren glühend von dem Leben, der Empfindung, der Frische, ja von
all der edlen Schönheit vor ihm stehen, die ihnen eigen war, als sie zuerst
aus der Hand des Meisters hervorgingen. Ich meinestheils kann solche
Wunder nicht zu Stande bringen. Können es jene andern nicht inspirirter
Beschauer, oder leben sie nur in der glücklichen Einbildung, daß sie es können?
-- Nachdem ich so viel über das Abendmahl gelesen, bin ich überzeugt, daß
es einmal ein Wunder der Kunst gewesen ist. Aber das war vor drei¬
hundert Jahren.

Es ärgert mich, wenn ich Leute so geläufig von Empfindung, Ausdruck,
Ton und jenen andern leicht erworbenen und nichtssagenden technischen
Ausdrücken der Künstler schwatzen höre, mit denen in Unterhaltungen über
Gemälde so viel Staat gemacht wird. Unter sünfundsiebzighundert Menschen


gerissenen Seele: O I Wundervoll! — Welch ein Ausdruck! — Welche'Anmuth
in der Haltung! — Welche Würde! — Welche fehlerfreie Zeichnung! — Welch eine
beispiellose Farbenpracht! — Wie viel Gefühl! — Was für eine Erhabenheit der
Auffassung! — Was für eine zarte Pinselführung! Ich beneide diese Leute um
ihre aufrichtige Bewunderung, wenn sie aufrichtig ist, um ihr Entzücken, wenn
sie Entzücken empfinden. Ich hege keinerlei Animosität gegen irgend einen
von ihnen. Aber doch will sich mir der Gedanke aufdrängen: wie können
sie sehen, was nicht sichtbar ist? Was würde man von jemand denken, der
eine verschrumpfte, blinde, zahnlose, pockennarbige Kleopatra ansahe und
sagte: Welche beispiellose Schönheit! Wie viel Seele! Wie viel Ausdruck!
Was würde man von jemand meinen, der auf einen trüben nebligen Sonnen¬
untergang hinblickte und ausriefe: Was für ein erhabener Anblick! Wie
ergreifend! Welch eine reiche Farbenpracht! Was würde man von einem
Menschen halten, der auf eine Wüste mit Baumstämmen hinstarrte und
sagte: O meine Seele, mein klopfendes Herz, was ist das für ein edler Wald!
— Man würde denken, daß diese Leute doch ein erstaunliches Talent hätten,
Dinge zu sehen, die bereits dahin gegangen sind. Das war's denn auch, was
ich dachte, als ich vor dem Abendmahle stand und Leute Wunder, Schön¬
heiten und Vollkommenheiten begeisterungsooll anreden hörte, die aus dem
Bilde schon hundert Jahre vor ihrer Geburt entwichen waren. Wir können
uns die Schönheit vorstellen, die einst in einem jetzt bejahrten Gesichte
lag, wir können uns den Wald denken, wenn wir die Stümpfe sehen,
aber es ist absolut unmöglich, daß wir diese Dinge sehen, wenn sie nicht da
sind. Ich glaube gern, daß das Auge eines geübten Künstlers auf dem
Abendmahle ruhen und ein Lüstre wiederaufleuchten lassen kann, wo nur
noch eine Andeutung davon übrig ist, daß es eine Farbe, die verblichen ist,
ergänzen, einen Ausdruck, der verschwunden ist, wiederherstellen, daß es an
der nachgedunkelten Leinwand flicken, färben und hinzufügen kann, bis zuletzt
ihre Figuren glühend von dem Leben, der Empfindung, der Frische, ja von
all der edlen Schönheit vor ihm stehen, die ihnen eigen war, als sie zuerst
aus der Hand des Meisters hervorgingen. Ich meinestheils kann solche
Wunder nicht zu Stande bringen. Können es jene andern nicht inspirirter
Beschauer, oder leben sie nur in der glücklichen Einbildung, daß sie es können?
— Nachdem ich so viel über das Abendmahl gelesen, bin ich überzeugt, daß
es einmal ein Wunder der Kunst gewesen ist. Aber das war vor drei¬
hundert Jahren.

Es ärgert mich, wenn ich Leute so geläufig von Empfindung, Ausdruck,
Ton und jenen andern leicht erworbenen und nichtssagenden technischen
Ausdrücken der Künstler schwatzen höre, mit denen in Unterhaltungen über
Gemälde so viel Staat gemacht wird. Unter sünfundsiebzighundert Menschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/229>, abgerufen am 16.06.2024.