Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

thätige großherzige Mutterhülfe, die dem Erstarren nicht wehren, doch nicht
zum Unterliegen kommen lassen kann, vor die Seele." Endlich meint ein
bayerischer Phidias, der Bildhauer Wagner, allen Ernstes: "Könnte man nicht
ebensowohl glauben, die Gruppe stelle eine Mutter vor, die mit ihren Kindern
giftige Erdschwämme genossen, deren schädliche Wirkung sie bereits empfinden?"
Die Niobe hat also nach diesem naiven Beschauer nur -- Leibschneiden.

Wir besuchen nun mit unserm Humoristen, stets ergötzlich von' ihm
unterhalten, zunächst den Comer See, dann Venedig, Florenz, Pisa und
Livorno, darauf Rom und zuletzt Neapel und Pompeji. Allerliebst ist die
Stelle, wo der Verfasser einen Römer aus der Campagna auf Reisen gehen,
nach Amerika kommen und dann den Landsleuten daheim von seinen Be¬
obachtungen Bericht erstatten läßt. Es heißt da.

"Was gewährt die edelste Freude? Das Bewußtsein, etwas entdeckt zu
haben, zu wissen, daß man geht, wo noch kein Anderer gegangen, daß man
sieht, was noch kein Anderer gesehen. Was giebt es für mich in Rom zu
sehen, was nicht Andere vor mir schon gesehen haben? Was kann ich ent¬
decken? Nichts, auch gar nichts. Ein Reiz des Reifens stirbt hier. Ach
wenn ich nur ein Römer wäre! Wenn ich zu meinem eignen Päckchen davon
noch mit der Trägheit, dem Aberglauben und der grenzenlosen Unwissenheit
des modernen Römers begabt werden könnte, was für sinnbethörende Welten
voll unvermutheter Wunder würde ich entdecken! Ach wenn ich nur ein
Bewohner der Campagna, fünfundzwanzig Meilen von Rom, wäre, dann
wollt' ich reisen. Ich würde nach Amerika gehen und sehen und lernen und
nach der Campagna zurückkehren und als ein ruhmreicher Entdecker vor meine
Landsleute hintreten. Ich würde sagen:

Ich sah dort ein Land, welches keine Mutter Kirche hat, die es über¬
schattet, und doch überlebt es das Volk. Ich sah eine Regierung, die nicht
von ausländischen Soldaten beschützt wird und zwar mit größeren Kosten, als
die Führung der Regierung selbst beträgt. Ich sah gemeine Männer und
gemeine Weiber, die lesen und schreiben konnten, ich sah sogar kleine Kinder
von geringen Landleuten in Büchern lesen. Wenn ich zu denken wagte, ihr
würdet's mir glauben, so würde ich sagen, sie könnten auch schreiben. In
den Städten sah ich die Leute ein deliciöses Getränk trinken, das aus Kreide
und Wasser gemacht war, aber nicht ein einzig Mal sah ich durch ihren
Broadway, durch ihre Pensylvania-Avenue oder ihre Montgomerystreet Ziegen
treiben und vor den Thüren der Häuser gemolken werden. Ich sah selbst in
den Häusern der geringsten Leute wirkliche Glasfenster. Einige der Häuser
sind nicht von Stein noch von Ziegeln, ich schwöre feierlich, daß sie von
Holz gemacht sind. Häuser fangen dort bisweilen Feuer und brennen -- ja
brennen mitunter ganz nieder und lassen nicht eine einzige Spur zurück. Ich


thätige großherzige Mutterhülfe, die dem Erstarren nicht wehren, doch nicht
zum Unterliegen kommen lassen kann, vor die Seele." Endlich meint ein
bayerischer Phidias, der Bildhauer Wagner, allen Ernstes: „Könnte man nicht
ebensowohl glauben, die Gruppe stelle eine Mutter vor, die mit ihren Kindern
giftige Erdschwämme genossen, deren schädliche Wirkung sie bereits empfinden?"
Die Niobe hat also nach diesem naiven Beschauer nur — Leibschneiden.

Wir besuchen nun mit unserm Humoristen, stets ergötzlich von' ihm
unterhalten, zunächst den Comer See, dann Venedig, Florenz, Pisa und
Livorno, darauf Rom und zuletzt Neapel und Pompeji. Allerliebst ist die
Stelle, wo der Verfasser einen Römer aus der Campagna auf Reisen gehen,
nach Amerika kommen und dann den Landsleuten daheim von seinen Be¬
obachtungen Bericht erstatten läßt. Es heißt da.

„Was gewährt die edelste Freude? Das Bewußtsein, etwas entdeckt zu
haben, zu wissen, daß man geht, wo noch kein Anderer gegangen, daß man
sieht, was noch kein Anderer gesehen. Was giebt es für mich in Rom zu
sehen, was nicht Andere vor mir schon gesehen haben? Was kann ich ent¬
decken? Nichts, auch gar nichts. Ein Reiz des Reifens stirbt hier. Ach
wenn ich nur ein Römer wäre! Wenn ich zu meinem eignen Päckchen davon
noch mit der Trägheit, dem Aberglauben und der grenzenlosen Unwissenheit
des modernen Römers begabt werden könnte, was für sinnbethörende Welten
voll unvermutheter Wunder würde ich entdecken! Ach wenn ich nur ein
Bewohner der Campagna, fünfundzwanzig Meilen von Rom, wäre, dann
wollt' ich reisen. Ich würde nach Amerika gehen und sehen und lernen und
nach der Campagna zurückkehren und als ein ruhmreicher Entdecker vor meine
Landsleute hintreten. Ich würde sagen:

Ich sah dort ein Land, welches keine Mutter Kirche hat, die es über¬
schattet, und doch überlebt es das Volk. Ich sah eine Regierung, die nicht
von ausländischen Soldaten beschützt wird und zwar mit größeren Kosten, als
die Führung der Regierung selbst beträgt. Ich sah gemeine Männer und
gemeine Weiber, die lesen und schreiben konnten, ich sah sogar kleine Kinder
von geringen Landleuten in Büchern lesen. Wenn ich zu denken wagte, ihr
würdet's mir glauben, so würde ich sagen, sie könnten auch schreiben. In
den Städten sah ich die Leute ein deliciöses Getränk trinken, das aus Kreide
und Wasser gemacht war, aber nicht ein einzig Mal sah ich durch ihren
Broadway, durch ihre Pensylvania-Avenue oder ihre Montgomerystreet Ziegen
treiben und vor den Thüren der Häuser gemolken werden. Ich sah selbst in
den Häusern der geringsten Leute wirkliche Glasfenster. Einige der Häuser
sind nicht von Stein noch von Ziegeln, ich schwöre feierlich, daß sie von
Holz gemacht sind. Häuser fangen dort bisweilen Feuer und brennen — ja
brennen mitunter ganz nieder und lassen nicht eine einzige Spur zurück. Ich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0231" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134049"/>
          <p xml:id="ID_728" prev="#ID_727"> thätige großherzige Mutterhülfe, die dem Erstarren nicht wehren, doch nicht<lb/>
zum Unterliegen kommen lassen kann, vor die Seele." Endlich meint ein<lb/>
bayerischer Phidias, der Bildhauer Wagner, allen Ernstes: &#x201E;Könnte man nicht<lb/>
ebensowohl glauben, die Gruppe stelle eine Mutter vor, die mit ihren Kindern<lb/>
giftige Erdschwämme genossen, deren schädliche Wirkung sie bereits empfinden?"<lb/>
Die Niobe hat also nach diesem naiven Beschauer nur &#x2014; Leibschneiden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_729"> Wir besuchen nun mit unserm Humoristen, stets ergötzlich von' ihm<lb/>
unterhalten, zunächst den Comer See, dann Venedig, Florenz, Pisa und<lb/>
Livorno, darauf Rom und zuletzt Neapel und Pompeji. Allerliebst ist die<lb/>
Stelle, wo der Verfasser einen Römer aus der Campagna auf Reisen gehen,<lb/>
nach Amerika kommen und dann den Landsleuten daheim von seinen Be¬<lb/>
obachtungen Bericht erstatten läßt.  Es heißt da.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_730"> &#x201E;Was gewährt die edelste Freude? Das Bewußtsein, etwas entdeckt zu<lb/>
haben, zu wissen, daß man geht, wo noch kein Anderer gegangen, daß man<lb/>
sieht, was noch kein Anderer gesehen. Was giebt es für mich in Rom zu<lb/>
sehen, was nicht Andere vor mir schon gesehen haben? Was kann ich ent¬<lb/>
decken? Nichts, auch gar nichts. Ein Reiz des Reifens stirbt hier. Ach<lb/>
wenn ich nur ein Römer wäre! Wenn ich zu meinem eignen Päckchen davon<lb/>
noch mit der Trägheit, dem Aberglauben und der grenzenlosen Unwissenheit<lb/>
des modernen Römers begabt werden könnte, was für sinnbethörende Welten<lb/>
voll unvermutheter Wunder würde ich entdecken! Ach wenn ich nur ein<lb/>
Bewohner der Campagna, fünfundzwanzig Meilen von Rom, wäre, dann<lb/>
wollt' ich reisen. Ich würde nach Amerika gehen und sehen und lernen und<lb/>
nach der Campagna zurückkehren und als ein ruhmreicher Entdecker vor meine<lb/>
Landsleute hintreten.  Ich würde sagen:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_731" next="#ID_732"> Ich sah dort ein Land, welches keine Mutter Kirche hat, die es über¬<lb/>
schattet, und doch überlebt es das Volk. Ich sah eine Regierung, die nicht<lb/>
von ausländischen Soldaten beschützt wird und zwar mit größeren Kosten, als<lb/>
die Führung der Regierung selbst beträgt. Ich sah gemeine Männer und<lb/>
gemeine Weiber, die lesen und schreiben konnten, ich sah sogar kleine Kinder<lb/>
von geringen Landleuten in Büchern lesen. Wenn ich zu denken wagte, ihr<lb/>
würdet's mir glauben, so würde ich sagen, sie könnten auch schreiben. In<lb/>
den Städten sah ich die Leute ein deliciöses Getränk trinken, das aus Kreide<lb/>
und Wasser gemacht war, aber nicht ein einzig Mal sah ich durch ihren<lb/>
Broadway, durch ihre Pensylvania-Avenue oder ihre Montgomerystreet Ziegen<lb/>
treiben und vor den Thüren der Häuser gemolken werden. Ich sah selbst in<lb/>
den Häusern der geringsten Leute wirkliche Glasfenster. Einige der Häuser<lb/>
sind nicht von Stein noch von Ziegeln, ich schwöre feierlich, daß sie von<lb/>
Holz gemacht sind. Häuser fangen dort bisweilen Feuer und brennen &#x2014; ja<lb/>
brennen mitunter ganz nieder und lassen nicht eine einzige Spur zurück. Ich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0231] thätige großherzige Mutterhülfe, die dem Erstarren nicht wehren, doch nicht zum Unterliegen kommen lassen kann, vor die Seele." Endlich meint ein bayerischer Phidias, der Bildhauer Wagner, allen Ernstes: „Könnte man nicht ebensowohl glauben, die Gruppe stelle eine Mutter vor, die mit ihren Kindern giftige Erdschwämme genossen, deren schädliche Wirkung sie bereits empfinden?" Die Niobe hat also nach diesem naiven Beschauer nur — Leibschneiden. Wir besuchen nun mit unserm Humoristen, stets ergötzlich von' ihm unterhalten, zunächst den Comer See, dann Venedig, Florenz, Pisa und Livorno, darauf Rom und zuletzt Neapel und Pompeji. Allerliebst ist die Stelle, wo der Verfasser einen Römer aus der Campagna auf Reisen gehen, nach Amerika kommen und dann den Landsleuten daheim von seinen Be¬ obachtungen Bericht erstatten läßt. Es heißt da. „Was gewährt die edelste Freude? Das Bewußtsein, etwas entdeckt zu haben, zu wissen, daß man geht, wo noch kein Anderer gegangen, daß man sieht, was noch kein Anderer gesehen. Was giebt es für mich in Rom zu sehen, was nicht Andere vor mir schon gesehen haben? Was kann ich ent¬ decken? Nichts, auch gar nichts. Ein Reiz des Reifens stirbt hier. Ach wenn ich nur ein Römer wäre! Wenn ich zu meinem eignen Päckchen davon noch mit der Trägheit, dem Aberglauben und der grenzenlosen Unwissenheit des modernen Römers begabt werden könnte, was für sinnbethörende Welten voll unvermutheter Wunder würde ich entdecken! Ach wenn ich nur ein Bewohner der Campagna, fünfundzwanzig Meilen von Rom, wäre, dann wollt' ich reisen. Ich würde nach Amerika gehen und sehen und lernen und nach der Campagna zurückkehren und als ein ruhmreicher Entdecker vor meine Landsleute hintreten. Ich würde sagen: Ich sah dort ein Land, welches keine Mutter Kirche hat, die es über¬ schattet, und doch überlebt es das Volk. Ich sah eine Regierung, die nicht von ausländischen Soldaten beschützt wird und zwar mit größeren Kosten, als die Führung der Regierung selbst beträgt. Ich sah gemeine Männer und gemeine Weiber, die lesen und schreiben konnten, ich sah sogar kleine Kinder von geringen Landleuten in Büchern lesen. Wenn ich zu denken wagte, ihr würdet's mir glauben, so würde ich sagen, sie könnten auch schreiben. In den Städten sah ich die Leute ein deliciöses Getränk trinken, das aus Kreide und Wasser gemacht war, aber nicht ein einzig Mal sah ich durch ihren Broadway, durch ihre Pensylvania-Avenue oder ihre Montgomerystreet Ziegen treiben und vor den Thüren der Häuser gemolken werden. Ich sah selbst in den Häusern der geringsten Leute wirkliche Glasfenster. Einige der Häuser sind nicht von Stein noch von Ziegeln, ich schwöre feierlich, daß sie von Holz gemacht sind. Häuser fangen dort bisweilen Feuer und brennen — ja brennen mitunter ganz nieder und lassen nicht eine einzige Spur zurück. Ich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/231
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/231>, abgerufen am 16.06.2024.