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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Regierung, im Erziehungswesen, vor allem in der Rechtspflege, ja sogar in
den Communalverwaltungen der alten flandrischen Städte durchzusetzen und
auszuüben, welche in früheren Jahrhunderten ihre Nationalität mit so viel
Entschlossenheit und Zähigkeit in blutigen Kämpfen gegen Spanier und Fran¬
zosen vertheidigt hatten?

Wir haben im 17. und 18. Jahrhundert an uns selbst genugsam erfahren,
welch einen bestrickenden Einfluß die französische Literatur und französisches
Wesen auszuüben im Stande find. Wir haben uns siegreich losgerungen,
aber es bedürfte eines gewaltigen geistigen Aufschwunges wie wir ihn in der
zweiten Blütheperiode unserer Nationalliteratur haben erstehen sehen. Die
Geistesthaten eines Lessing mußten erst das literarische, die Siege des großen
Friedrich das militärische Prestige Frankreichs beseitigen und den doppelten
Zauber lösen, der uns gefangen hielt. Kann man sich wundern, daß der
französisch-wallonische Einfluß auf das vlamische Gebiet so groß geworden
und geblieben ist, ist es nicht erklärlich, daß so viele selbst gebildete Vlamen
ihrem Stamme den Rücken gewendet haben und ganz in das französische
Lager übergegangen sind? Unstreitig haben hierbei noch andere mächtige
Impulse mitgewirkt, vor Allem die ganz ultramomane Gesinnung des
vlamischen Landvolkes, welche aber keineswegs von allen Angehörigen des
Stammes getheilt wird. Die Partei der vlamischen Bewegung, welche ich
im Folgenden noch genauer skizziren werde, ist durchaus liberal und in jeder
Beziehung deutschfreundlich gesinnt. Aber die sprachliche Sonderstellung der
Vlamen hat ebenfalls viel an den gegenwärtigen Zuständen schuld. In Folge
seiner eigenartigen Fortentwickelung von der Schriftsprache unseres Volkes
und selbst mehr und mehr von dem so nahe verwandten holländischen Idiom
getrennt, konnte das Vlamische in seiner Isolirtheit unmöglich der auf
geistigem Gebiete mit Frankreich völlig verwachsenen und gleichmäßig mit
demselben fortgeschrittenen Literatur und Publicistik der Wallonen die Wage
halten. Eine ganz verkehrte Ansicht aber und ein Unrecht zugleich wäre es,
wenn man glauben wollte, der wallonische Stamm sei deshalb dem Vlamischen
geistig überlegen, wie natürlich die Wallonen steif und fest glauben und nie
verfehlen zu betonen, schon um die vermeintliche Berechtigung ihrer admini¬
strativen Uebergriffe zu beweisen. "Nennen Sie mir ein hervorragendes wissen¬
schaftliches Werk, das in vlamischer Sprache geschrieben wäre," sagte mir vor
einigen Tagen ein wallonischer Jurist, als wir über diese Punkte disputirten.
Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß doch meines Wissens eine ziemliche
Anzahl nicht ganz unbedeutender wissenschaftlicher Werke in vlamischer Sprache
entstanden seien, nicht ohne nebenher anzudeuten, daß er bei seinem öfter
betonten belgischen Gesammtpatriotismus das eigentlich besser wissen müsse,
als ein Ausländer, und daß seine Frage immerhin ein wenig sophistisch sei.


Regierung, im Erziehungswesen, vor allem in der Rechtspflege, ja sogar in
den Communalverwaltungen der alten flandrischen Städte durchzusetzen und
auszuüben, welche in früheren Jahrhunderten ihre Nationalität mit so viel
Entschlossenheit und Zähigkeit in blutigen Kämpfen gegen Spanier und Fran¬
zosen vertheidigt hatten?

Wir haben im 17. und 18. Jahrhundert an uns selbst genugsam erfahren,
welch einen bestrickenden Einfluß die französische Literatur und französisches
Wesen auszuüben im Stande find. Wir haben uns siegreich losgerungen,
aber es bedürfte eines gewaltigen geistigen Aufschwunges wie wir ihn in der
zweiten Blütheperiode unserer Nationalliteratur haben erstehen sehen. Die
Geistesthaten eines Lessing mußten erst das literarische, die Siege des großen
Friedrich das militärische Prestige Frankreichs beseitigen und den doppelten
Zauber lösen, der uns gefangen hielt. Kann man sich wundern, daß der
französisch-wallonische Einfluß auf das vlamische Gebiet so groß geworden
und geblieben ist, ist es nicht erklärlich, daß so viele selbst gebildete Vlamen
ihrem Stamme den Rücken gewendet haben und ganz in das französische
Lager übergegangen sind? Unstreitig haben hierbei noch andere mächtige
Impulse mitgewirkt, vor Allem die ganz ultramomane Gesinnung des
vlamischen Landvolkes, welche aber keineswegs von allen Angehörigen des
Stammes getheilt wird. Die Partei der vlamischen Bewegung, welche ich
im Folgenden noch genauer skizziren werde, ist durchaus liberal und in jeder
Beziehung deutschfreundlich gesinnt. Aber die sprachliche Sonderstellung der
Vlamen hat ebenfalls viel an den gegenwärtigen Zuständen schuld. In Folge
seiner eigenartigen Fortentwickelung von der Schriftsprache unseres Volkes
und selbst mehr und mehr von dem so nahe verwandten holländischen Idiom
getrennt, konnte das Vlamische in seiner Isolirtheit unmöglich der auf
geistigem Gebiete mit Frankreich völlig verwachsenen und gleichmäßig mit
demselben fortgeschrittenen Literatur und Publicistik der Wallonen die Wage
halten. Eine ganz verkehrte Ansicht aber und ein Unrecht zugleich wäre es,
wenn man glauben wollte, der wallonische Stamm sei deshalb dem Vlamischen
geistig überlegen, wie natürlich die Wallonen steif und fest glauben und nie
verfehlen zu betonen, schon um die vermeintliche Berechtigung ihrer admini¬
strativen Uebergriffe zu beweisen. „Nennen Sie mir ein hervorragendes wissen¬
schaftliches Werk, das in vlamischer Sprache geschrieben wäre," sagte mir vor
einigen Tagen ein wallonischer Jurist, als wir über diese Punkte disputirten.
Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß doch meines Wissens eine ziemliche
Anzahl nicht ganz unbedeutender wissenschaftlicher Werke in vlamischer Sprache
entstanden seien, nicht ohne nebenher anzudeuten, daß er bei seinem öfter
betonten belgischen Gesammtpatriotismus das eigentlich besser wissen müsse,
als ein Ausländer, und daß seine Frage immerhin ein wenig sophistisch sei.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/240>, abgerufen am 16.06.2024.