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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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sondern der Posse. Die, wie die Bezugnahme auf Aristophanes lehrt, von
den Griechen abstrahirte Theorie ist im Einzelnen folgende: "An Stelle eines
idealen Empfindens ist im deutschen Volk ein sehr nüchternes Beurtheilen und
Berechnen getreten; die zersetzende Verstandesschärfe übt allenthalben ihren
Einfluß aus, der alte Glaube sinkt im Bewußtsein der Massen, die alten
politischen und socialen Formen zerfallen, allenthalben macht sich das Element
der demokratischen Masse geltend, selbst bis auf unsere Diktion, welche auch
bei den gebildeten Classen eine reale, nüchterne, selbst ans Gemeine streifende
geworden ist, die nicht mehr den geeigneten Untergrund für eine tragische
oder auch nur lyrisch-poetische Diktion bildet. Ein solches Zeitalter ist das
Zeitalter nicht der Tragödie, sondern der Posse. Und dieser Posse, wohl¬
gemerkt, nicht der verlodderten, wie sie sich hier auf den Lorstädtischen Berliner
Theatern breit macht, sondern der Aristophanischen Posse, welche bei allen
Narrensprüngen doch im Hintergrunde den Schmerz um eine große, sich all-
mählig zersetzende Welt, um eine der Auflösung entgegengehende Nationalität
hat, sollten unsre modernen dramatischen Dichter ihre Kraft zuwenden."

Das ist sehr oberflächlich geredet, so zutreffend Einzelnes auch erscheinen
mag. Ich will ganz davon absehen, ob die Schilderung unserer Zeit wirklich
so richtig ist, wie es vielleicht manchem auf den ersten Blick vorkommt. Ich
wende mich nur gegen die Theorie, daß Zeiten der aristophanischen Komödie
nicht mehr Zeiten der Tragödie sein sollen. Freilich wird an einer andern
Stelle einschränkend "der classischen" hinzugefügt. Aber weiß denn unser
Theoretiker nicht, daß Euripides gerade ein Zeitgenosse des Aristophanes
war? Oder sieht er die Tragödie des Euripides für so nichtsbedeutend an,
daß sie gar nicht in Betracht gezogen zu werden verdient?

Bei allen ihren Schwächen ist die Euripideische Tragödie doch immer
eine bahnbrechende und großartige Erscheinung. Und was vorgeblich eine
Tragödie unmöglich machen soll, das Ringen einer alten und neuen Zeit, die
Auflösung des bisher Bestehenden, die Herrschaft der demokratischen Masse,
das Ueberwiegen der zersetzenden Verstandesschärfe, eben das sind die Elemente
deren Einflüsse die Euripideische Tragödie den ihr eigenthümlichen Charakter
verdankt. Während die Komiker für die gute alte Zeit eintraten und, so
weit sie schon entschwunden war, für ihre Zurückführung kämpften, stellte sich
Euripides an die Spitze der geistigen Bewegung, trat in seinen Tragödien
als ihr Wortführer auf, bemächtigte sich der Probleme, zu deren Lösung die
Zeit drängte, wurde ein Sittenmaler seiner Zeit, ihrer Gebrechen, Conflikte
und Ansprüche, und indem er hierbei sich in die innere Welt des Subjektes
vertiefte und das menschliche Gemüthsleben bis in seine tiefsten Tiefen ver¬
folgte und bloslegte, wie es vor ihm noch kein Hellenischer Dichter gethan
hatte, war er es, der die griechische Tragödie ihres exclusiv nationalen Charak-


sondern der Posse. Die, wie die Bezugnahme auf Aristophanes lehrt, von
den Griechen abstrahirte Theorie ist im Einzelnen folgende: „An Stelle eines
idealen Empfindens ist im deutschen Volk ein sehr nüchternes Beurtheilen und
Berechnen getreten; die zersetzende Verstandesschärfe übt allenthalben ihren
Einfluß aus, der alte Glaube sinkt im Bewußtsein der Massen, die alten
politischen und socialen Formen zerfallen, allenthalben macht sich das Element
der demokratischen Masse geltend, selbst bis auf unsere Diktion, welche auch
bei den gebildeten Classen eine reale, nüchterne, selbst ans Gemeine streifende
geworden ist, die nicht mehr den geeigneten Untergrund für eine tragische
oder auch nur lyrisch-poetische Diktion bildet. Ein solches Zeitalter ist das
Zeitalter nicht der Tragödie, sondern der Posse. Und dieser Posse, wohl¬
gemerkt, nicht der verlodderten, wie sie sich hier auf den Lorstädtischen Berliner
Theatern breit macht, sondern der Aristophanischen Posse, welche bei allen
Narrensprüngen doch im Hintergrunde den Schmerz um eine große, sich all-
mählig zersetzende Welt, um eine der Auflösung entgegengehende Nationalität
hat, sollten unsre modernen dramatischen Dichter ihre Kraft zuwenden."

Das ist sehr oberflächlich geredet, so zutreffend Einzelnes auch erscheinen
mag. Ich will ganz davon absehen, ob die Schilderung unserer Zeit wirklich
so richtig ist, wie es vielleicht manchem auf den ersten Blick vorkommt. Ich
wende mich nur gegen die Theorie, daß Zeiten der aristophanischen Komödie
nicht mehr Zeiten der Tragödie sein sollen. Freilich wird an einer andern
Stelle einschränkend „der classischen" hinzugefügt. Aber weiß denn unser
Theoretiker nicht, daß Euripides gerade ein Zeitgenosse des Aristophanes
war? Oder sieht er die Tragödie des Euripides für so nichtsbedeutend an,
daß sie gar nicht in Betracht gezogen zu werden verdient?

Bei allen ihren Schwächen ist die Euripideische Tragödie doch immer
eine bahnbrechende und großartige Erscheinung. Und was vorgeblich eine
Tragödie unmöglich machen soll, das Ringen einer alten und neuen Zeit, die
Auflösung des bisher Bestehenden, die Herrschaft der demokratischen Masse,
das Ueberwiegen der zersetzenden Verstandesschärfe, eben das sind die Elemente
deren Einflüsse die Euripideische Tragödie den ihr eigenthümlichen Charakter
verdankt. Während die Komiker für die gute alte Zeit eintraten und, so
weit sie schon entschwunden war, für ihre Zurückführung kämpften, stellte sich
Euripides an die Spitze der geistigen Bewegung, trat in seinen Tragödien
als ihr Wortführer auf, bemächtigte sich der Probleme, zu deren Lösung die
Zeit drängte, wurde ein Sittenmaler seiner Zeit, ihrer Gebrechen, Conflikte
und Ansprüche, und indem er hierbei sich in die innere Welt des Subjektes
vertiefte und das menschliche Gemüthsleben bis in seine tiefsten Tiefen ver¬
folgte und bloslegte, wie es vor ihm noch kein Hellenischer Dichter gethan
hatte, war er es, der die griechische Tragödie ihres exclusiv nationalen Charak-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/250>, abgerufen am 16.06.2024.