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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Urtheil erreicht aber gerade das am wenigsten, was es erreichen und be¬
zwecken sollte.

Eine gerichtliche Untersuchung, ein Urtheilsspruch über das Scheitern
eines Schiffs kann doch -- da Se räh urtheile in den seltensten Fällen gegen
die Schuldigen ausgesprochen werden können -- nur dann von Nutzen sein,
wenn durch die strengste Prüfung aller Umstände und durch unumwundenen
Tadel, wo Tadel nöthig ist, eine Wiederholung ähnlicher Katastrophen unter
ähnlichen Umständen verhindert wird. Diesen Erfolg wird aber das englische
Urtheil über den Untergang des Schiller keineswegs herbeiführen. Die Ein¬
seitigkeit des Urtheilsspruchs des Greenwicher Polizei-Gerichts nachzuweisen
und das Fehlende in dem Urtheil gestützt auf die in der Untersuchung und
bei der Zeugenvernehmung ermittelten Thatsachen zu ergänzen, ist meine
Absicht. -- "

Das Polizei-Gericht zu Greenwich stellte fünf Fragen auf, welche für
die Verhöre und die Untersuchung den leitenden Faden geben sollten. Die
Fragen sind genügend scharf und umfassend, so daß sie Alles zu Tage fördern
mußten, was die Ursachen des Untergangs eines Dampfers erster Classe er¬
mitteln ließ.

Diese Fragen lauteten: 1. Wie kam der "Schiller" in seine schlimme
Lage? 2. Wurden geeignete Vorsichtsmaaßregeln angewandt, während seines
Laufes im Nebel, und besonders in der letzten Periode desselben? 3. Wie
kam es, daß die Nebelglocke auf Bishop Rock Leuchtthurm nicht gehört
wurde? 4. Warum wurden nicht mehr Personen in den Schiffsbooten, oder
in Booten vom Lande gerettet? L. Würde eine Vermehrung der Communi-
cationsmittel zwischen dem Leuchtthurm und dem Lande dazu beigetragen
haben, den schrecklichen Menschenverlust zu mindern?

Die stenographischen Berichte der Verhöre in der Untersuchung*) dieses
Unglücksfalls durch obengenannten Gerichtshof ergeben nun im Wesentlichen
die im Folgenden kurz zusammengestellten Thatsachen. Den meisten Lesern
werden sie im Allgemeinen bekannt sein, aber doch mag Manches nicht
genügend beachtet, oder von Laien falsch oder gar nicht verstanden wor¬
den sein.

Der Führer des Schiller, Capitain Thomas, war Jahre lang im Dienst
der englischen Oriental Dampfer Linie nach Westindien. Er galt stets als
tüchtig, vorsichtig, und, was einem Schiffsführer zu besonderem Lobe gereicht,
er hat sich erwiesener Maaßen nach nebeligen Wetter kaum le um l'/z See¬
meilen,**) in der Berechnung der Schiffslage geirrt.




") Stehe London Tinie6 vom 2, ij, und 4. Juni d. I.
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) (circa :"00N Med.)
Grenzboten Hi- 1^5-54

Urtheil erreicht aber gerade das am wenigsten, was es erreichen und be¬
zwecken sollte.

Eine gerichtliche Untersuchung, ein Urtheilsspruch über das Scheitern
eines Schiffs kann doch — da Se räh urtheile in den seltensten Fällen gegen
die Schuldigen ausgesprochen werden können — nur dann von Nutzen sein,
wenn durch die strengste Prüfung aller Umstände und durch unumwundenen
Tadel, wo Tadel nöthig ist, eine Wiederholung ähnlicher Katastrophen unter
ähnlichen Umständen verhindert wird. Diesen Erfolg wird aber das englische
Urtheil über den Untergang des Schiller keineswegs herbeiführen. Die Ein¬
seitigkeit des Urtheilsspruchs des Greenwicher Polizei-Gerichts nachzuweisen
und das Fehlende in dem Urtheil gestützt auf die in der Untersuchung und
bei der Zeugenvernehmung ermittelten Thatsachen zu ergänzen, ist meine
Absicht. — "

Das Polizei-Gericht zu Greenwich stellte fünf Fragen auf, welche für
die Verhöre und die Untersuchung den leitenden Faden geben sollten. Die
Fragen sind genügend scharf und umfassend, so daß sie Alles zu Tage fördern
mußten, was die Ursachen des Untergangs eines Dampfers erster Classe er¬
mitteln ließ.

Diese Fragen lauteten: 1. Wie kam der „Schiller" in seine schlimme
Lage? 2. Wurden geeignete Vorsichtsmaaßregeln angewandt, während seines
Laufes im Nebel, und besonders in der letzten Periode desselben? 3. Wie
kam es, daß die Nebelglocke auf Bishop Rock Leuchtthurm nicht gehört
wurde? 4. Warum wurden nicht mehr Personen in den Schiffsbooten, oder
in Booten vom Lande gerettet? L. Würde eine Vermehrung der Communi-
cationsmittel zwischen dem Leuchtthurm und dem Lande dazu beigetragen
haben, den schrecklichen Menschenverlust zu mindern?

Die stenographischen Berichte der Verhöre in der Untersuchung*) dieses
Unglücksfalls durch obengenannten Gerichtshof ergeben nun im Wesentlichen
die im Folgenden kurz zusammengestellten Thatsachen. Den meisten Lesern
werden sie im Allgemeinen bekannt sein, aber doch mag Manches nicht
genügend beachtet, oder von Laien falsch oder gar nicht verstanden wor¬
den sein.

Der Führer des Schiller, Capitain Thomas, war Jahre lang im Dienst
der englischen Oriental Dampfer Linie nach Westindien. Er galt stets als
tüchtig, vorsichtig, und, was einem Schiffsführer zu besonderem Lobe gereicht,
er hat sich erwiesener Maaßen nach nebeligen Wetter kaum le um l'/z See¬
meilen,**) in der Berechnung der Schiffslage geirrt.




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[0433] Urtheil erreicht aber gerade das am wenigsten, was es erreichen und be¬ zwecken sollte. Eine gerichtliche Untersuchung, ein Urtheilsspruch über das Scheitern eines Schiffs kann doch — da Se räh urtheile in den seltensten Fällen gegen die Schuldigen ausgesprochen werden können — nur dann von Nutzen sein, wenn durch die strengste Prüfung aller Umstände und durch unumwundenen Tadel, wo Tadel nöthig ist, eine Wiederholung ähnlicher Katastrophen unter ähnlichen Umständen verhindert wird. Diesen Erfolg wird aber das englische Urtheil über den Untergang des Schiller keineswegs herbeiführen. Die Ein¬ seitigkeit des Urtheilsspruchs des Greenwicher Polizei-Gerichts nachzuweisen und das Fehlende in dem Urtheil gestützt auf die in der Untersuchung und bei der Zeugenvernehmung ermittelten Thatsachen zu ergänzen, ist meine Absicht. — " Das Polizei-Gericht zu Greenwich stellte fünf Fragen auf, welche für die Verhöre und die Untersuchung den leitenden Faden geben sollten. Die Fragen sind genügend scharf und umfassend, so daß sie Alles zu Tage fördern mußten, was die Ursachen des Untergangs eines Dampfers erster Classe er¬ mitteln ließ. Diese Fragen lauteten: 1. Wie kam der „Schiller" in seine schlimme Lage? 2. Wurden geeignete Vorsichtsmaaßregeln angewandt, während seines Laufes im Nebel, und besonders in der letzten Periode desselben? 3. Wie kam es, daß die Nebelglocke auf Bishop Rock Leuchtthurm nicht gehört wurde? 4. Warum wurden nicht mehr Personen in den Schiffsbooten, oder in Booten vom Lande gerettet? L. Würde eine Vermehrung der Communi- cationsmittel zwischen dem Leuchtthurm und dem Lande dazu beigetragen haben, den schrecklichen Menschenverlust zu mindern? Die stenographischen Berichte der Verhöre in der Untersuchung*) dieses Unglücksfalls durch obengenannten Gerichtshof ergeben nun im Wesentlichen die im Folgenden kurz zusammengestellten Thatsachen. Den meisten Lesern werden sie im Allgemeinen bekannt sein, aber doch mag Manches nicht genügend beachtet, oder von Laien falsch oder gar nicht verstanden wor¬ den sein. Der Führer des Schiller, Capitain Thomas, war Jahre lang im Dienst der englischen Oriental Dampfer Linie nach Westindien. Er galt stets als tüchtig, vorsichtig, und, was einem Schiffsführer zu besonderem Lobe gereicht, er hat sich erwiesener Maaßen nach nebeligen Wetter kaum le um l'/z See¬ meilen,**) in der Berechnung der Schiffslage geirrt. ") Stehe London Tinie6 vom 2, ij, und 4. Juni d. I. ^ ) (circa :»00N Med.) Grenzboten Hi- 1^5-54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/433>, abgerufen am 25.05.2024.