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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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diejenigen Unrecht, welche sie deshalb für ein bedeutungsloses Element in der
Bevölkerung hielten. Sie konnte, sich selbst überlassen, keine große Rolle
spielen, und sie that wohl, sich dem Aufstande der Muslime nicht anzu¬
schließen, wozu sie nicht aufgefordert war, und wodurch sie ihre Lage auch
nicht gebessert hätte. Die Raja Bosniens ist ein vorgeschobener Posten
Rußlands, mit dem sie der Religion nach verwandt ist, und welches schon
seit den ersten Jahrzehnten unseres Seculums hier einen moralischen Einfluß
übt, der von England umsonst bekämpft wird. Sie hat ferner in Montenegro
und Serbien stille Bundesgenossen, die nur auf den Augenblick warten, wo
es ihnen erlaubt sein wird, gegen die Türken loszubrechen, und die magya¬
rische Mißgunst und Furcht vor einem Zusammenfließen der getrennten
Südslaven in eine Einheit oder einen Bund vermuthlich nicht für immer
davon abhalten wird.

Die Christen verhielten sich während des Aufstandes ruhig und gleich¬
gültig, sie hatten begreiflicherweise keine Sympathien für die Insurgenten, die
nicht für sie. sondern für sich, für ihre Privilegien, gegen die Reform kämpf¬
ten, aber sie hatten auch keine Ursache, den Sieg der Pforte zu wünschen;
denn die Reform kam fast nur dieser, nicht ihnen zu Gute, sie beschwerte nur
den Adel, half aber der christlichen Raja nur wenig von ihrer Last. Sie
wußten endlich, daß ihre Stunde noch nicht geschlagen hatte. Omer Pascha
sah dieß ein. Er war von Anfang an bemüht, der Raja einige Erleichterung
zu verschaffen und sie wenigstens von aller Parteinahme gegen die Regierung
abzuhalten. Dies gelang ihm leicht, und er hätte wohl im Nothfalle, d. h.
wenn die Insurgenten im Begriffe gewesen wären, die Oberhand zu behalten
und die Herrschaft über das Land uneingeschränkt durch die Pforte zu ge¬
winnen, auf Hülfstruppen aus den Reihen der Christen rechnen können, da
eine solche Wendung der Dinge für die letzteren gefährlicher gewesen wäre, als
die Herrschaft der Pforte, die wenigstens Einiges that, um den auf der Raja
lastenden Druck zu erleichtern, und zu ernsteren Reformen zu schreiten von
außen gedrängt werden konnte.

Allerdings wurden, als diese Frage unter den intelligenteren böhmischen
Christen discutirt wurde, auch eine andere Meinung laut. Mehrere Stimmen
hoben hervor, daß ein entschiedener Sieg der Aufständischen und eine Los¬
reißung des Landes von der Pforte die Sieger in die Hände der Raja liefern
müsse, die, an Zahl doppelt so stark als sie, in nicht langer Zeit die Ober¬
hand erlangen würde, wenn die Regierung die böhmischen Muhamedaner
nicht mehr beschützen könnte. Aber die Mehrzahl sprach sich gegen diese An¬
sicht aus und war der Meinung, daß man es vor der Hand auf die Gefahr
hin, die alte Doppeltyrannei von Adel und Regierung fortertragen zu müssen,
mit der Pforte halten müsse, denn "die Tage derselben seien doch gezählt.


diejenigen Unrecht, welche sie deshalb für ein bedeutungsloses Element in der
Bevölkerung hielten. Sie konnte, sich selbst überlassen, keine große Rolle
spielen, und sie that wohl, sich dem Aufstande der Muslime nicht anzu¬
schließen, wozu sie nicht aufgefordert war, und wodurch sie ihre Lage auch
nicht gebessert hätte. Die Raja Bosniens ist ein vorgeschobener Posten
Rußlands, mit dem sie der Religion nach verwandt ist, und welches schon
seit den ersten Jahrzehnten unseres Seculums hier einen moralischen Einfluß
übt, der von England umsonst bekämpft wird. Sie hat ferner in Montenegro
und Serbien stille Bundesgenossen, die nur auf den Augenblick warten, wo
es ihnen erlaubt sein wird, gegen die Türken loszubrechen, und die magya¬
rische Mißgunst und Furcht vor einem Zusammenfließen der getrennten
Südslaven in eine Einheit oder einen Bund vermuthlich nicht für immer
davon abhalten wird.

Die Christen verhielten sich während des Aufstandes ruhig und gleich¬
gültig, sie hatten begreiflicherweise keine Sympathien für die Insurgenten, die
nicht für sie. sondern für sich, für ihre Privilegien, gegen die Reform kämpf¬
ten, aber sie hatten auch keine Ursache, den Sieg der Pforte zu wünschen;
denn die Reform kam fast nur dieser, nicht ihnen zu Gute, sie beschwerte nur
den Adel, half aber der christlichen Raja nur wenig von ihrer Last. Sie
wußten endlich, daß ihre Stunde noch nicht geschlagen hatte. Omer Pascha
sah dieß ein. Er war von Anfang an bemüht, der Raja einige Erleichterung
zu verschaffen und sie wenigstens von aller Parteinahme gegen die Regierung
abzuhalten. Dies gelang ihm leicht, und er hätte wohl im Nothfalle, d. h.
wenn die Insurgenten im Begriffe gewesen wären, die Oberhand zu behalten
und die Herrschaft über das Land uneingeschränkt durch die Pforte zu ge¬
winnen, auf Hülfstruppen aus den Reihen der Christen rechnen können, da
eine solche Wendung der Dinge für die letzteren gefährlicher gewesen wäre, als
die Herrschaft der Pforte, die wenigstens Einiges that, um den auf der Raja
lastenden Druck zu erleichtern, und zu ernsteren Reformen zu schreiten von
außen gedrängt werden konnte.

Allerdings wurden, als diese Frage unter den intelligenteren böhmischen
Christen discutirt wurde, auch eine andere Meinung laut. Mehrere Stimmen
hoben hervor, daß ein entschiedener Sieg der Aufständischen und eine Los¬
reißung des Landes von der Pforte die Sieger in die Hände der Raja liefern
müsse, die, an Zahl doppelt so stark als sie, in nicht langer Zeit die Ober¬
hand erlangen würde, wenn die Regierung die böhmischen Muhamedaner
nicht mehr beschützen könnte. Aber die Mehrzahl sprach sich gegen diese An¬
sicht aus und war der Meinung, daß man es vor der Hand auf die Gefahr
hin, die alte Doppeltyrannei von Adel und Regierung fortertragen zu müssen,
mit der Pforte halten müsse, denn „die Tage derselben seien doch gezählt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/112>, abgerufen am 19.05.2024.