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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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geschrieben und in den Liederschatz der Gemeinde aufgenommen. Die Poesie
derselben ist, wie das Meiste von dem, was die jenseitige Welt durch ihre
Vermittler der diesseitigen auf diesem Gebiete liefert, nicht allzuviel werth,
aber die Musik hat stets etwas seltsam Wildes, Unheimliches und doch
Sanftes und Naives.

Die Thäter machen Anspruch darauf, die reinste und dem wahren Christen¬
thum am meisten entsprechende Kirche zu sein, die in gerader Linie eine Fort¬
setzung der Kirche sei, welche durch Christi barmherziges und reines Leben
begründet worden. Indem sie anerkennen, daß in jeder Religion ein gewisses
Maß von göttlicher Eingebung walte, geben sie auch zu, daß in den ver¬
schiedenen Religionsgesellschaften ein mehr oder minder klarer Zug nach dem
hingehe, was sie "sein Kreuz auf sich nehmen" oder "wie die-Engel leben"
zu nennen pflegen, nach dem Cölibat, welches nicht nur das Leben der katho¬
lischen Mönche und Nonnen bestimmte, sondern auch die römischen Vesta-
linnen, die peruanischen Sonnenjungfrauen und die buddhistischen Bonzen
ihre Sinnlichkeit einem Höhern opfern ließ. Sie beklagen sich, von solchen
profanen Schriftstellern, die über sie geschrieben und sie als eigentlich nur in¬
sofern nützliche Leute dargestellt haben, als sie armen und Hülflosen Menschen
jedes Alters und Geschlechts in ihrer Mitte eine Zuflucht und Heimath ge¬
währten, vollständig mißverstanden worden zu sein. Sie behaupten, um mit
dem Eider Fräser zu Shirley zu reden, daß ihr Glaubenssystem und ihre
Ethik sich "auf die Thatsache basire, daß jeder Mensch in sich ein höheres
und ein niederes Leben hat," und daß das Shakerthum "eine Aeußerung des
höheren und eine Ausschließung des niederen" ist. Es hat, sagt jener Ver¬
theidiger desselben, den Zweck, alle diejenigen in eine Heerde zu sammeln die
sich über die ihnen angeborenen Triebe erhoben haben und mit Paulus denken,
daß die, welche heirathen, wohl, die aber, welche nicht hetrathen, besser thun.
Ihre Predigten, ihr Unterricht, ihre Literatur drehen sich großentheils um
diesen Punkt, und doch finde ich es nicht ganz unbegreiflich, wenn Freunde
von der Welt draußen her mehr auf das Schauspiel des stillen friedenvollen
Lebens der Shaker sehen und an diese geräuschlosen Häuser nur als an Zu¬
fluchtsorte für alle, die mühselig und beladen sind, denken; denn am Ende
war es mit Christus doch auch nicht anders.

Wenn ich mir ihr Dorf, dieses einfache, etwas wunderliche Shirley ins
Gedächtniß zurückrufe, so überkommt und erfüllt mich das Gefühl des tiefsten
Friedens. Ich sehe seine lange, breite, schnurgerade Straße mit den schmuck¬
losen Gebäuden zu beiden Seiten, dem Garten, der die Hügelwand empor-
und auf der andern Seite wieder hinabsteigt, die duftenden Obstpflanzungen
und die weithin gestreckte Fläche mit Klee bestandenen Landes, hinter welcher
ein breiter Streifen Buchweizen beginnt, und zwischen dessen milchweißen


geschrieben und in den Liederschatz der Gemeinde aufgenommen. Die Poesie
derselben ist, wie das Meiste von dem, was die jenseitige Welt durch ihre
Vermittler der diesseitigen auf diesem Gebiete liefert, nicht allzuviel werth,
aber die Musik hat stets etwas seltsam Wildes, Unheimliches und doch
Sanftes und Naives.

Die Thäter machen Anspruch darauf, die reinste und dem wahren Christen¬
thum am meisten entsprechende Kirche zu sein, die in gerader Linie eine Fort¬
setzung der Kirche sei, welche durch Christi barmherziges und reines Leben
begründet worden. Indem sie anerkennen, daß in jeder Religion ein gewisses
Maß von göttlicher Eingebung walte, geben sie auch zu, daß in den ver¬
schiedenen Religionsgesellschaften ein mehr oder minder klarer Zug nach dem
hingehe, was sie „sein Kreuz auf sich nehmen" oder „wie die-Engel leben"
zu nennen pflegen, nach dem Cölibat, welches nicht nur das Leben der katho¬
lischen Mönche und Nonnen bestimmte, sondern auch die römischen Vesta-
linnen, die peruanischen Sonnenjungfrauen und die buddhistischen Bonzen
ihre Sinnlichkeit einem Höhern opfern ließ. Sie beklagen sich, von solchen
profanen Schriftstellern, die über sie geschrieben und sie als eigentlich nur in¬
sofern nützliche Leute dargestellt haben, als sie armen und Hülflosen Menschen
jedes Alters und Geschlechts in ihrer Mitte eine Zuflucht und Heimath ge¬
währten, vollständig mißverstanden worden zu sein. Sie behaupten, um mit
dem Eider Fräser zu Shirley zu reden, daß ihr Glaubenssystem und ihre
Ethik sich „auf die Thatsache basire, daß jeder Mensch in sich ein höheres
und ein niederes Leben hat," und daß das Shakerthum „eine Aeußerung des
höheren und eine Ausschließung des niederen" ist. Es hat, sagt jener Ver¬
theidiger desselben, den Zweck, alle diejenigen in eine Heerde zu sammeln die
sich über die ihnen angeborenen Triebe erhoben haben und mit Paulus denken,
daß die, welche heirathen, wohl, die aber, welche nicht hetrathen, besser thun.
Ihre Predigten, ihr Unterricht, ihre Literatur drehen sich großentheils um
diesen Punkt, und doch finde ich es nicht ganz unbegreiflich, wenn Freunde
von der Welt draußen her mehr auf das Schauspiel des stillen friedenvollen
Lebens der Shaker sehen und an diese geräuschlosen Häuser nur als an Zu¬
fluchtsorte für alle, die mühselig und beladen sind, denken; denn am Ende
war es mit Christus doch auch nicht anders.

Wenn ich mir ihr Dorf, dieses einfache, etwas wunderliche Shirley ins
Gedächtniß zurückrufe, so überkommt und erfüllt mich das Gefühl des tiefsten
Friedens. Ich sehe seine lange, breite, schnurgerade Straße mit den schmuck¬
losen Gebäuden zu beiden Seiten, dem Garten, der die Hügelwand empor-
und auf der andern Seite wieder hinabsteigt, die duftenden Obstpflanzungen
und die weithin gestreckte Fläche mit Klee bestandenen Landes, hinter welcher
ein breiter Streifen Buchweizen beginnt, und zwischen dessen milchweißen


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[0162] geschrieben und in den Liederschatz der Gemeinde aufgenommen. Die Poesie derselben ist, wie das Meiste von dem, was die jenseitige Welt durch ihre Vermittler der diesseitigen auf diesem Gebiete liefert, nicht allzuviel werth, aber die Musik hat stets etwas seltsam Wildes, Unheimliches und doch Sanftes und Naives. Die Thäter machen Anspruch darauf, die reinste und dem wahren Christen¬ thum am meisten entsprechende Kirche zu sein, die in gerader Linie eine Fort¬ setzung der Kirche sei, welche durch Christi barmherziges und reines Leben begründet worden. Indem sie anerkennen, daß in jeder Religion ein gewisses Maß von göttlicher Eingebung walte, geben sie auch zu, daß in den ver¬ schiedenen Religionsgesellschaften ein mehr oder minder klarer Zug nach dem hingehe, was sie „sein Kreuz auf sich nehmen" oder „wie die-Engel leben" zu nennen pflegen, nach dem Cölibat, welches nicht nur das Leben der katho¬ lischen Mönche und Nonnen bestimmte, sondern auch die römischen Vesta- linnen, die peruanischen Sonnenjungfrauen und die buddhistischen Bonzen ihre Sinnlichkeit einem Höhern opfern ließ. Sie beklagen sich, von solchen profanen Schriftstellern, die über sie geschrieben und sie als eigentlich nur in¬ sofern nützliche Leute dargestellt haben, als sie armen und Hülflosen Menschen jedes Alters und Geschlechts in ihrer Mitte eine Zuflucht und Heimath ge¬ währten, vollständig mißverstanden worden zu sein. Sie behaupten, um mit dem Eider Fräser zu Shirley zu reden, daß ihr Glaubenssystem und ihre Ethik sich „auf die Thatsache basire, daß jeder Mensch in sich ein höheres und ein niederes Leben hat," und daß das Shakerthum „eine Aeußerung des höheren und eine Ausschließung des niederen" ist. Es hat, sagt jener Ver¬ theidiger desselben, den Zweck, alle diejenigen in eine Heerde zu sammeln die sich über die ihnen angeborenen Triebe erhoben haben und mit Paulus denken, daß die, welche heirathen, wohl, die aber, welche nicht hetrathen, besser thun. Ihre Predigten, ihr Unterricht, ihre Literatur drehen sich großentheils um diesen Punkt, und doch finde ich es nicht ganz unbegreiflich, wenn Freunde von der Welt draußen her mehr auf das Schauspiel des stillen friedenvollen Lebens der Shaker sehen und an diese geräuschlosen Häuser nur als an Zu¬ fluchtsorte für alle, die mühselig und beladen sind, denken; denn am Ende war es mit Christus doch auch nicht anders. Wenn ich mir ihr Dorf, dieses einfache, etwas wunderliche Shirley ins Gedächtniß zurückrufe, so überkommt und erfüllt mich das Gefühl des tiefsten Friedens. Ich sehe seine lange, breite, schnurgerade Straße mit den schmuck¬ losen Gebäuden zu beiden Seiten, dem Garten, der die Hügelwand empor- und auf der andern Seite wieder hinabsteigt, die duftenden Obstpflanzungen und die weithin gestreckte Fläche mit Klee bestandenen Landes, hinter welcher ein breiter Streifen Buchweizen beginnt, und zwischen dessen milchweißen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/162>, abgerufen am 18.05.2024.