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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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rien oder Familien zu Shirley und Harvard wurden noch zu ihren Lebzeiten,
gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts hin gegründet. Am letztgenannten
Orte zeigt man noch das Zimmer, in welchem sie wohnte, und aus dem sie
einst der Pöbel herausschleppte, um sie zu mißhandeln. Sie soll von Person
eine kleine, untersetzte Person mit hellblonden Haaren und blauen Augen und
in verzückten Augenblicken von wunderbarer Schönheit gewesen sein.

In andern Beziehungen als dem Verhältniß der Gründerin ihrer Secte
zu Christus und der Menschheit und der Pflicht, im Cölibat zu leben, sind
die Shaker hin und wieder verschiedener Meinung. Die meisten scheinen z. B. nicht
an die Geburt Christi von einer Jungfrau und auch nicht an seine Gottheit
zu glauben, hinsichtlich der letzteren vielmehr der Meinung zu sein, daß er
ein vollkommner, göttlich reiner Mensch gewesen sei, dem wir es gleich thun
können. Ebenso scheinen die meisten Shaker die puritanischen Vorstellungen
von zukünftigen Belohnungen und Strafen zu verwerfen und sich unge¬
fähr zu den Ansichten Swedenborg's von dem jenseitigen Leben zu bekennen.
Alle theilen, wenn ich recht verstanden habe, die Ueberzeugung der gegenwärtig
in Amerika weit verbreiteten Sviritualistensecte von der Möglichkeit eines Ver¬
kehrs zwischen Menschen und Geistern von Abgeschiedenen. Sie erkennen
eine Reihenfolge von Inspirationen aus jener Welt an, die von den ältesten
Zeiten bis auf unsere Zeit herabreicht, und in der sie lange vor den ersten
Geisterklopfern schon als Medium fungtrt haben wollen. Wie ich oben bet
Erwähnung der "heiligen Rolle" bereits gesagt habe, standen die Shaker-
familien im Osten wie im Westen schon fünf oder sechs Jahre, bevor man
die Geister, die seitdem so viele Tischbeine, Psychographen und tgi. bestellen
und reden ließen, in Rochester zuerst klopfen hörte, im innigsten und lebhaf¬
testen Verkehr mit jener Welt, und sie wollen sogar durch die Bewohner
derselben die bevorstehende Invasion des Jenseits und das darauf folgende
Besessensein von allerlei Hausgeräth im Voraus erfahren haben.

Sie fühlen sich indeß durch die Ergebnisse dieser Eroberung des Dies¬
seits durch das Jenseits keineswegs sehr befriedigt. Indeß glauben sie, daß
der Verkehr zwischen den beiden Welten von den üblen Einflüssen, die ihn
verunstaltet und lächerlich gemacht haben, befreit werden kann, und sie wollen
Anzeichen haben, daß die Manifestationen von droben, die 1842 stattfanden,
sich binnen kurzer Frist unter ihnen wiederholen werden. In gewissem Maße
haben dieselben eigentlich nie ganz aufgehört. Viele von den Hymnen, welche
die Shaker bei ihren gottesdienstlichen Versammlungen singen, sind sowohl
nach ihrem Text, wie nach ihrer Musik directe Inspirationen, die -- so be¬
haupten sie wenigstens -- diesem Bruder oder jener Schwester ganz ohne
Beziehung zu ihrer Begabung für dergleichen in den Kopf und auf die
Zunge kommen. Sie werden aus dem Stegreif gesungen und dann nieder-


Grenzboten III, 1876. 20

rien oder Familien zu Shirley und Harvard wurden noch zu ihren Lebzeiten,
gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts hin gegründet. Am letztgenannten
Orte zeigt man noch das Zimmer, in welchem sie wohnte, und aus dem sie
einst der Pöbel herausschleppte, um sie zu mißhandeln. Sie soll von Person
eine kleine, untersetzte Person mit hellblonden Haaren und blauen Augen und
in verzückten Augenblicken von wunderbarer Schönheit gewesen sein.

In andern Beziehungen als dem Verhältniß der Gründerin ihrer Secte
zu Christus und der Menschheit und der Pflicht, im Cölibat zu leben, sind
die Shaker hin und wieder verschiedener Meinung. Die meisten scheinen z. B. nicht
an die Geburt Christi von einer Jungfrau und auch nicht an seine Gottheit
zu glauben, hinsichtlich der letzteren vielmehr der Meinung zu sein, daß er
ein vollkommner, göttlich reiner Mensch gewesen sei, dem wir es gleich thun
können. Ebenso scheinen die meisten Shaker die puritanischen Vorstellungen
von zukünftigen Belohnungen und Strafen zu verwerfen und sich unge¬
fähr zu den Ansichten Swedenborg's von dem jenseitigen Leben zu bekennen.
Alle theilen, wenn ich recht verstanden habe, die Ueberzeugung der gegenwärtig
in Amerika weit verbreiteten Sviritualistensecte von der Möglichkeit eines Ver¬
kehrs zwischen Menschen und Geistern von Abgeschiedenen. Sie erkennen
eine Reihenfolge von Inspirationen aus jener Welt an, die von den ältesten
Zeiten bis auf unsere Zeit herabreicht, und in der sie lange vor den ersten
Geisterklopfern schon als Medium fungtrt haben wollen. Wie ich oben bet
Erwähnung der „heiligen Rolle" bereits gesagt habe, standen die Shaker-
familien im Osten wie im Westen schon fünf oder sechs Jahre, bevor man
die Geister, die seitdem so viele Tischbeine, Psychographen und tgi. bestellen
und reden ließen, in Rochester zuerst klopfen hörte, im innigsten und lebhaf¬
testen Verkehr mit jener Welt, und sie wollen sogar durch die Bewohner
derselben die bevorstehende Invasion des Jenseits und das darauf folgende
Besessensein von allerlei Hausgeräth im Voraus erfahren haben.

Sie fühlen sich indeß durch die Ergebnisse dieser Eroberung des Dies¬
seits durch das Jenseits keineswegs sehr befriedigt. Indeß glauben sie, daß
der Verkehr zwischen den beiden Welten von den üblen Einflüssen, die ihn
verunstaltet und lächerlich gemacht haben, befreit werden kann, und sie wollen
Anzeichen haben, daß die Manifestationen von droben, die 1842 stattfanden,
sich binnen kurzer Frist unter ihnen wiederholen werden. In gewissem Maße
haben dieselben eigentlich nie ganz aufgehört. Viele von den Hymnen, welche
die Shaker bei ihren gottesdienstlichen Versammlungen singen, sind sowohl
nach ihrem Text, wie nach ihrer Musik directe Inspirationen, die — so be¬
haupten sie wenigstens — diesem Bruder oder jener Schwester ganz ohne
Beziehung zu ihrer Begabung für dergleichen in den Kopf und auf die
Zunge kommen. Sie werden aus dem Stegreif gesungen und dann nieder-


Grenzboten III, 1876. 20
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[0161] rien oder Familien zu Shirley und Harvard wurden noch zu ihren Lebzeiten, gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts hin gegründet. Am letztgenannten Orte zeigt man noch das Zimmer, in welchem sie wohnte, und aus dem sie einst der Pöbel herausschleppte, um sie zu mißhandeln. Sie soll von Person eine kleine, untersetzte Person mit hellblonden Haaren und blauen Augen und in verzückten Augenblicken von wunderbarer Schönheit gewesen sein. In andern Beziehungen als dem Verhältniß der Gründerin ihrer Secte zu Christus und der Menschheit und der Pflicht, im Cölibat zu leben, sind die Shaker hin und wieder verschiedener Meinung. Die meisten scheinen z. B. nicht an die Geburt Christi von einer Jungfrau und auch nicht an seine Gottheit zu glauben, hinsichtlich der letzteren vielmehr der Meinung zu sein, daß er ein vollkommner, göttlich reiner Mensch gewesen sei, dem wir es gleich thun können. Ebenso scheinen die meisten Shaker die puritanischen Vorstellungen von zukünftigen Belohnungen und Strafen zu verwerfen und sich unge¬ fähr zu den Ansichten Swedenborg's von dem jenseitigen Leben zu bekennen. Alle theilen, wenn ich recht verstanden habe, die Ueberzeugung der gegenwärtig in Amerika weit verbreiteten Sviritualistensecte von der Möglichkeit eines Ver¬ kehrs zwischen Menschen und Geistern von Abgeschiedenen. Sie erkennen eine Reihenfolge von Inspirationen aus jener Welt an, die von den ältesten Zeiten bis auf unsere Zeit herabreicht, und in der sie lange vor den ersten Geisterklopfern schon als Medium fungtrt haben wollen. Wie ich oben bet Erwähnung der „heiligen Rolle" bereits gesagt habe, standen die Shaker- familien im Osten wie im Westen schon fünf oder sechs Jahre, bevor man die Geister, die seitdem so viele Tischbeine, Psychographen und tgi. bestellen und reden ließen, in Rochester zuerst klopfen hörte, im innigsten und lebhaf¬ testen Verkehr mit jener Welt, und sie wollen sogar durch die Bewohner derselben die bevorstehende Invasion des Jenseits und das darauf folgende Besessensein von allerlei Hausgeräth im Voraus erfahren haben. Sie fühlen sich indeß durch die Ergebnisse dieser Eroberung des Dies¬ seits durch das Jenseits keineswegs sehr befriedigt. Indeß glauben sie, daß der Verkehr zwischen den beiden Welten von den üblen Einflüssen, die ihn verunstaltet und lächerlich gemacht haben, befreit werden kann, und sie wollen Anzeichen haben, daß die Manifestationen von droben, die 1842 stattfanden, sich binnen kurzer Frist unter ihnen wiederholen werden. In gewissem Maße haben dieselben eigentlich nie ganz aufgehört. Viele von den Hymnen, welche die Shaker bei ihren gottesdienstlichen Versammlungen singen, sind sowohl nach ihrem Text, wie nach ihrer Musik directe Inspirationen, die — so be¬ haupten sie wenigstens — diesem Bruder oder jener Schwester ganz ohne Beziehung zu ihrer Begabung für dergleichen in den Kopf und auf die Zunge kommen. Sie werden aus dem Stegreif gesungen und dann nieder- Grenzboten III, 1876. 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/161>, abgerufen am 19.05.2024.