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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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sprachen wurde, daß Religion. Race oder Sprache keine Ueber- oder Unter¬
ordnung einer Klasse der Unterthanen des Sultans über oder unter eine
andere begründen dürfe. Auch die übrigen Bestimmungen dieses gro߬
herrlichen Erlasses über das Recht der Christen, zum Unterricht in den Civil-
und Militärschulen und zu Staatsämtern zugelassen zu werden, über die
Gerichtsbarkeit der Rajah, die Reform des Strafsystems und des Gefängni߬
wesens, über die städtische und ländliche Polizeiverwaltung, die Wehrpflicht,
die Reform in der Zusammensetzung der Provinzial- und Gemeinderäthe, die
gleichmäßige Vertheilung der Steuern u. d. sahen verständig aus, ließen sich
aber mit wenigen Ausnahmen nicht durchführen oder blieben ohne Leben und
ohne Frucht wie ein Reis, das man auf den unechten Baum gepfropft hat.
Sie verstießen gegen den Koran, das oberste Gesetzbuch des Reiches, sie wur¬
den von den Behörden entweder gar nicht oder nachlässig, halb, nur für
kurze Zeit ausgeführt, sie wurden vom türkischen Volke mit Widerwillen
aufgenommen und, wo es die Macht hatte, nach Möglichkeit unwirksam ge¬
macht. Wie wenig von allen den schönen Dingen der Magna Charta der
türkischen Christen wirklich ins Leben getreten war, als im böhmischen Auf¬
stande das Borspiel des jetzigen Kriegs begann, beweisen die in Folge dieses
Aufstandes ergangenen Reformerlasse und Versprechungen der Pforte, die zum
guten Theil nur wiederholen, was jener Hattihumayum schon vor zwanzig
Jahren verheißen hatte. Im Folgenden nennen wir dieselben und geben
einen Auszug aus ihrem Inhalt, den wir wieder der im vorigen Abschnitt er¬
wähnten Registrande des großen Pr. Generalstabs entnehmen.

Das Jrade vom 2. Oktober 1875 verspricht:

Die friedlich ihrer Arbeit nachgebende ackerbautreibende Bevölkerung
in den aufständischen Gebieten soll von der jüngst eingeführten Steuer --
von einem Viertel des Zehnts -- befreit sein, auch soll für sie ein Nachlaß
der bis zum Finanzjahr 1289 rückständigen Steuern eintreten. Ausgenommen
von dieser Vergünstigung sind die Zehntpächter gegen Garantie, die wohl¬
habenden Klassen (was heißt wohlhabend?) und die Staatsschuldner. Die
Gemeinden sollen in den Provinzial-Verwaltungsräthen durch Personen ver¬
treten sein, welche deren Vertrauen besitzen. Die von diesen Personen kund¬
gegebenen Wünsche sollen mit Aufmerksamkeit aufgenommen werden. (Wie
behutsam -- nicht auch, sobald sie irgend billig und gerecht, erfüllt werden?)
Deputationen jährlicher Generalversammlungen sollen ermächtigt sein, nach
Konstantinopel zu kommen, um ihre Anliegen der Pforte vorzutragen.
Außerdem werden einige in ihren Gemeinden Ansehen genießende Personen
von Zeit zu Zeit nach Konstantinopel berufen werden, um Auskunft über
die Bedürfnisse ihrer Gegend zu ertheilen. Die in dieser Weise gesammelten
Nachrichten sollen als Basis für die im Hinblick auf die allgemeine Wohlfahrt


sprachen wurde, daß Religion. Race oder Sprache keine Ueber- oder Unter¬
ordnung einer Klasse der Unterthanen des Sultans über oder unter eine
andere begründen dürfe. Auch die übrigen Bestimmungen dieses gro߬
herrlichen Erlasses über das Recht der Christen, zum Unterricht in den Civil-
und Militärschulen und zu Staatsämtern zugelassen zu werden, über die
Gerichtsbarkeit der Rajah, die Reform des Strafsystems und des Gefängni߬
wesens, über die städtische und ländliche Polizeiverwaltung, die Wehrpflicht,
die Reform in der Zusammensetzung der Provinzial- und Gemeinderäthe, die
gleichmäßige Vertheilung der Steuern u. d. sahen verständig aus, ließen sich
aber mit wenigen Ausnahmen nicht durchführen oder blieben ohne Leben und
ohne Frucht wie ein Reis, das man auf den unechten Baum gepfropft hat.
Sie verstießen gegen den Koran, das oberste Gesetzbuch des Reiches, sie wur¬
den von den Behörden entweder gar nicht oder nachlässig, halb, nur für
kurze Zeit ausgeführt, sie wurden vom türkischen Volke mit Widerwillen
aufgenommen und, wo es die Macht hatte, nach Möglichkeit unwirksam ge¬
macht. Wie wenig von allen den schönen Dingen der Magna Charta der
türkischen Christen wirklich ins Leben getreten war, als im böhmischen Auf¬
stande das Borspiel des jetzigen Kriegs begann, beweisen die in Folge dieses
Aufstandes ergangenen Reformerlasse und Versprechungen der Pforte, die zum
guten Theil nur wiederholen, was jener Hattihumayum schon vor zwanzig
Jahren verheißen hatte. Im Folgenden nennen wir dieselben und geben
einen Auszug aus ihrem Inhalt, den wir wieder der im vorigen Abschnitt er¬
wähnten Registrande des großen Pr. Generalstabs entnehmen.

Das Jrade vom 2. Oktober 1875 verspricht:

Die friedlich ihrer Arbeit nachgebende ackerbautreibende Bevölkerung
in den aufständischen Gebieten soll von der jüngst eingeführten Steuer —
von einem Viertel des Zehnts — befreit sein, auch soll für sie ein Nachlaß
der bis zum Finanzjahr 1289 rückständigen Steuern eintreten. Ausgenommen
von dieser Vergünstigung sind die Zehntpächter gegen Garantie, die wohl¬
habenden Klassen (was heißt wohlhabend?) und die Staatsschuldner. Die
Gemeinden sollen in den Provinzial-Verwaltungsräthen durch Personen ver¬
treten sein, welche deren Vertrauen besitzen. Die von diesen Personen kund¬
gegebenen Wünsche sollen mit Aufmerksamkeit aufgenommen werden. (Wie
behutsam — nicht auch, sobald sie irgend billig und gerecht, erfüllt werden?)
Deputationen jährlicher Generalversammlungen sollen ermächtigt sein, nach
Konstantinopel zu kommen, um ihre Anliegen der Pforte vorzutragen.
Außerdem werden einige in ihren Gemeinden Ansehen genießende Personen
von Zeit zu Zeit nach Konstantinopel berufen werden, um Auskunft über
die Bedürfnisse ihrer Gegend zu ertheilen. Die in dieser Weise gesammelten
Nachrichten sollen als Basis für die im Hinblick auf die allgemeine Wohlfahrt


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[0315] sprachen wurde, daß Religion. Race oder Sprache keine Ueber- oder Unter¬ ordnung einer Klasse der Unterthanen des Sultans über oder unter eine andere begründen dürfe. Auch die übrigen Bestimmungen dieses gro߬ herrlichen Erlasses über das Recht der Christen, zum Unterricht in den Civil- und Militärschulen und zu Staatsämtern zugelassen zu werden, über die Gerichtsbarkeit der Rajah, die Reform des Strafsystems und des Gefängni߬ wesens, über die städtische und ländliche Polizeiverwaltung, die Wehrpflicht, die Reform in der Zusammensetzung der Provinzial- und Gemeinderäthe, die gleichmäßige Vertheilung der Steuern u. d. sahen verständig aus, ließen sich aber mit wenigen Ausnahmen nicht durchführen oder blieben ohne Leben und ohne Frucht wie ein Reis, das man auf den unechten Baum gepfropft hat. Sie verstießen gegen den Koran, das oberste Gesetzbuch des Reiches, sie wur¬ den von den Behörden entweder gar nicht oder nachlässig, halb, nur für kurze Zeit ausgeführt, sie wurden vom türkischen Volke mit Widerwillen aufgenommen und, wo es die Macht hatte, nach Möglichkeit unwirksam ge¬ macht. Wie wenig von allen den schönen Dingen der Magna Charta der türkischen Christen wirklich ins Leben getreten war, als im böhmischen Auf¬ stande das Borspiel des jetzigen Kriegs begann, beweisen die in Folge dieses Aufstandes ergangenen Reformerlasse und Versprechungen der Pforte, die zum guten Theil nur wiederholen, was jener Hattihumayum schon vor zwanzig Jahren verheißen hatte. Im Folgenden nennen wir dieselben und geben einen Auszug aus ihrem Inhalt, den wir wieder der im vorigen Abschnitt er¬ wähnten Registrande des großen Pr. Generalstabs entnehmen. Das Jrade vom 2. Oktober 1875 verspricht: Die friedlich ihrer Arbeit nachgebende ackerbautreibende Bevölkerung in den aufständischen Gebieten soll von der jüngst eingeführten Steuer — von einem Viertel des Zehnts — befreit sein, auch soll für sie ein Nachlaß der bis zum Finanzjahr 1289 rückständigen Steuern eintreten. Ausgenommen von dieser Vergünstigung sind die Zehntpächter gegen Garantie, die wohl¬ habenden Klassen (was heißt wohlhabend?) und die Staatsschuldner. Die Gemeinden sollen in den Provinzial-Verwaltungsräthen durch Personen ver¬ treten sein, welche deren Vertrauen besitzen. Die von diesen Personen kund¬ gegebenen Wünsche sollen mit Aufmerksamkeit aufgenommen werden. (Wie behutsam — nicht auch, sobald sie irgend billig und gerecht, erfüllt werden?) Deputationen jährlicher Generalversammlungen sollen ermächtigt sein, nach Konstantinopel zu kommen, um ihre Anliegen der Pforte vorzutragen. Außerdem werden einige in ihren Gemeinden Ansehen genießende Personen von Zeit zu Zeit nach Konstantinopel berufen werden, um Auskunft über die Bedürfnisse ihrer Gegend zu ertheilen. Die in dieser Weise gesammelten Nachrichten sollen als Basis für die im Hinblick auf die allgemeine Wohlfahrt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/315>, abgerufen am 31.05.2024.