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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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auch bald in dem, was begonnen war. sodaß die Reform vielfach ins Stocken
gerieth und Rückschritte nicht ausblieben. Im Innern der Provinzen aber
kamen die neuen Einrichtungen meist gar nicht zur Ausführung, und so ge¬
schah es, daß man bis in die letzten Jahre hinein allen Klagen und Vorstel-
lungen zum Trotz die Kaufs- und die Verkaufserlaubniß für Naturerzeugnisse
in den Binnenstrichen der europäischen und asiatischen Besitzungen des Sul¬
tans sich nur durch Geschenke an die Behörden verschaffen konnte. Der
Pascha, oft auch nur ein einfacher Bey oder Aga maßte sich hier ohne Weiteres
das Recht an, alle Ernten des Bezirks zu elenden Preisen, häufig sogar
gegen erzwungenen Credit auszulaufen. Jeder Vertrag mit Andern als ihm
war. wenn ihm die Gültigkeit desselben nicht durch Geld abgewonnen wurde,
ein todter Buchstabe, und die europäischen Capitalien, die ganz bereit waren,
sich belebend und befruchtend über ein Land auszubreiten, dessen reicher Boden
Getreide und Obst aller Art. Oliven. Wein, Färbestoffe, Baumwolle und
Apothekerwaaren in Hülle und Fülle hervorbringen könnte, wagten es nur
in seltenen Fällen, sich aus den Handelsstädten an der Küste in das Innere
zu begeben, wo sie keine Bürgschaft haben, frei wirken zu können. ?

Allerdings hat die Regierung von ihrem Standpunkte gewissermaßen Grund,
mit Reformen gedachter Art zu zögern und gegebene Freiheiten illusorisch zu
machen; denn alle Reform und alle Freiheit kommt lediglich derRajah zu Gute und
beschleunigt den Untergang des Türkenthums. Vielfach ist. wo man mit den Ver¬
besserungen Ernst machte, die türkische Bevölkerung von der christlichen in den
Hintergrund gedrängt worden. Ueberall vermehrt sich dort rasch die Zahl
der letzteren, des Verdienstes ihrer Hände sicherer, kauft sie nach und nach die
Besitzungen der verarmenden oder im Aussterben begriffenen Türken an. die
z. V. in Smyrna schon auf ein Stadtviertel beschränkt sind, welches nicht
viel stattlicher und wohlhabender als das der Juden ist, während die von
den Griechen und Armeniern bewohnten Quartiere sich mit jedem Jahre
schöner und reicher gestalten.

Wie diese Reform in weiten Kreisen ein todter Buchstabe geblieben ist,
so haben auch die andern bisher nur zum Theil und nur in gewissen Ge¬
genden des Reiches Leben gewonnen und Früchte getragen, und mit den
neuesten wird es nicht anders kommen. Sie sind immer bloße Palliativ¬
mittel, und viele von ihnen müssen nach der Beschaffenheit der Verhältnisse,
wenn sie ehrlich ausgeführt werden, eher zersetzend als vereinigend und
erhaltend wirken. Dahin gehören zunächst die auf dem Papier sich vortreff¬
lich ausnehmenden Grundrechte der Rajah, welche der Hatttscherif oder Hatti-
humayum vom 18. Februar 1856 verlieh. Es klang sehr schön, wenn hier
jedem Bekenntniß unbeschränkte Duldung zugesichert wurde, wenn jeder Zwang
zur Veränderung der Religion ausgeschlossen sein sollte, und wenn ausge-


auch bald in dem, was begonnen war. sodaß die Reform vielfach ins Stocken
gerieth und Rückschritte nicht ausblieben. Im Innern der Provinzen aber
kamen die neuen Einrichtungen meist gar nicht zur Ausführung, und so ge¬
schah es, daß man bis in die letzten Jahre hinein allen Klagen und Vorstel-
lungen zum Trotz die Kaufs- und die Verkaufserlaubniß für Naturerzeugnisse
in den Binnenstrichen der europäischen und asiatischen Besitzungen des Sul¬
tans sich nur durch Geschenke an die Behörden verschaffen konnte. Der
Pascha, oft auch nur ein einfacher Bey oder Aga maßte sich hier ohne Weiteres
das Recht an, alle Ernten des Bezirks zu elenden Preisen, häufig sogar
gegen erzwungenen Credit auszulaufen. Jeder Vertrag mit Andern als ihm
war. wenn ihm die Gültigkeit desselben nicht durch Geld abgewonnen wurde,
ein todter Buchstabe, und die europäischen Capitalien, die ganz bereit waren,
sich belebend und befruchtend über ein Land auszubreiten, dessen reicher Boden
Getreide und Obst aller Art. Oliven. Wein, Färbestoffe, Baumwolle und
Apothekerwaaren in Hülle und Fülle hervorbringen könnte, wagten es nur
in seltenen Fällen, sich aus den Handelsstädten an der Küste in das Innere
zu begeben, wo sie keine Bürgschaft haben, frei wirken zu können. ?

Allerdings hat die Regierung von ihrem Standpunkte gewissermaßen Grund,
mit Reformen gedachter Art zu zögern und gegebene Freiheiten illusorisch zu
machen; denn alle Reform und alle Freiheit kommt lediglich derRajah zu Gute und
beschleunigt den Untergang des Türkenthums. Vielfach ist. wo man mit den Ver¬
besserungen Ernst machte, die türkische Bevölkerung von der christlichen in den
Hintergrund gedrängt worden. Ueberall vermehrt sich dort rasch die Zahl
der letzteren, des Verdienstes ihrer Hände sicherer, kauft sie nach und nach die
Besitzungen der verarmenden oder im Aussterben begriffenen Türken an. die
z. V. in Smyrna schon auf ein Stadtviertel beschränkt sind, welches nicht
viel stattlicher und wohlhabender als das der Juden ist, während die von
den Griechen und Armeniern bewohnten Quartiere sich mit jedem Jahre
schöner und reicher gestalten.

Wie diese Reform in weiten Kreisen ein todter Buchstabe geblieben ist,
so haben auch die andern bisher nur zum Theil und nur in gewissen Ge¬
genden des Reiches Leben gewonnen und Früchte getragen, und mit den
neuesten wird es nicht anders kommen. Sie sind immer bloße Palliativ¬
mittel, und viele von ihnen müssen nach der Beschaffenheit der Verhältnisse,
wenn sie ehrlich ausgeführt werden, eher zersetzend als vereinigend und
erhaltend wirken. Dahin gehören zunächst die auf dem Papier sich vortreff¬
lich ausnehmenden Grundrechte der Rajah, welche der Hatttscherif oder Hatti-
humayum vom 18. Februar 1856 verlieh. Es klang sehr schön, wenn hier
jedem Bekenntniß unbeschränkte Duldung zugesichert wurde, wenn jeder Zwang
zur Veränderung der Religion ausgeschlossen sein sollte, und wenn ausge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/314>, abgerufen am 15.05.2024.