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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Zeitgenossen sich wiederspiegewn. Als Probe der Behandlung des Materials
geben wir auszugsweise und mit einigen Abkürzungen, was über die Neologen
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gesagt wird.

Das Gemeinsame der neologischen Praktiker war, daß sie die Wahrheiten
der natürlichen Religion und der aufklärenden Popularphilosophie auch als
die Lehre des Christenthums ohne viel Respect vor symbolischen Büchern,
Concilienbeschlüssen und kirchlichen Verdammungsurtheilen verkündigten. Sie
redeten auf der Kanzel wenig von Erbsünde, Buße, Wiedergeburt, Menschwerdung
Christi und Dreieinigkeit, weil alle diese Lehren ohne Einfluß auf die Gottseligkeit
seien, desto mehr dagegen von der Nützlichkeit des Glaubens an Gott und an
die Vorsehung, von der Unsterblichkeit der Seele und von möglicher Rückkehr
aus der sittlichen Verschlimmerung zur Tugend und Glückseligkeit. Das
Organ für die Religion war ihnen der Verstand, das Christenthum richtige
Religionslehre, die beste Philosophie, das Unterscheidende des Christenthums
die Anerkennung Jesu als des vorzüglichsten Religionslehrers, als des höchsten
Reichsbedienten Gottes auf Erden. An die Stelle der Dogmatik trat in den
Predigten die Moral. Aber die Nützlichkeit der geistlichen Amtsthätigkeit
schien noch weiterer Steigerung fähig zu sein. Garve richtete 1772 an Zollt-
kofer die Frage: "Sollten nicht zuletzt die Prediger die Lehrer aller gemein¬
nützigen Wissenschaften werden können," und Campe wünschte, daß sie zugleich
Dorfärzte werden möchten. Andere stellen die Forderung auf, der zukünftige
Landprediger solle außer Polemik, Dogmatik, Ktrchengeschichte und Exegese
auch das Rechnungswesen, Pädagogik, Anatomie, Oekonomie und Jurisprudenz
treiben, damit er seinen Pfarrkindern in Wirthschafts- und Proceßsachen,
bei Krankheiten und bei der Kinderzucht mit Rath und That beistehen könne.
In der That fingen nun Geistliche an, diesen Forderungen nach Möglichkeit
zu entsprechen. Von H. G. Zerrenner erschienen 1783 Natur- und Acker¬
predigten, von R. G. Beyer 1805 Predigten über Gegenstände aus der Natur
(Sonne, Mond, Sterne, Licht, vom Weltmeer, vom Winter, vom Nutzen des
Donnerwetters), I. G. Rosenmüller predigte 1800 über die Fortschritte in
den Naturkenntnissen, welche im achtzehnten Jahrhundert gemacht worden
sind, I. I. Stolz über die Merkwürdigkeitrn des achtzehnten Jahrhunderts,
wobei Friedrich der Große, Bonaparte, die Preßfreiheit, die Schweiz, die ver¬
derbten Höfe behandelt wurden. Andere hielten Predigten über den Werth
des Feldbaues, über Bräche, über den Kartoffelbau, über Stallfütterung
(Weihnachtspredigt), übers Baumverderben (am Palmsonntag) oder über vor
sichtiges Umgehen mit Feuer und Licht. Auch medicinische Themata wurden
besprochen. W. L. Steinbrenner gab 1804 Predigten über die Kunst, das
menschliche Leben nach Hufland'schen Grundsätzen zu verlängern, heraus. In
F. L. v. Kalas Postille zum Vorlesen in Landkirchen (Hannover 1821) lautet


Zeitgenossen sich wiederspiegewn. Als Probe der Behandlung des Materials
geben wir auszugsweise und mit einigen Abkürzungen, was über die Neologen
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gesagt wird.

Das Gemeinsame der neologischen Praktiker war, daß sie die Wahrheiten
der natürlichen Religion und der aufklärenden Popularphilosophie auch als
die Lehre des Christenthums ohne viel Respect vor symbolischen Büchern,
Concilienbeschlüssen und kirchlichen Verdammungsurtheilen verkündigten. Sie
redeten auf der Kanzel wenig von Erbsünde, Buße, Wiedergeburt, Menschwerdung
Christi und Dreieinigkeit, weil alle diese Lehren ohne Einfluß auf die Gottseligkeit
seien, desto mehr dagegen von der Nützlichkeit des Glaubens an Gott und an
die Vorsehung, von der Unsterblichkeit der Seele und von möglicher Rückkehr
aus der sittlichen Verschlimmerung zur Tugend und Glückseligkeit. Das
Organ für die Religion war ihnen der Verstand, das Christenthum richtige
Religionslehre, die beste Philosophie, das Unterscheidende des Christenthums
die Anerkennung Jesu als des vorzüglichsten Religionslehrers, als des höchsten
Reichsbedienten Gottes auf Erden. An die Stelle der Dogmatik trat in den
Predigten die Moral. Aber die Nützlichkeit der geistlichen Amtsthätigkeit
schien noch weiterer Steigerung fähig zu sein. Garve richtete 1772 an Zollt-
kofer die Frage: „Sollten nicht zuletzt die Prediger die Lehrer aller gemein¬
nützigen Wissenschaften werden können," und Campe wünschte, daß sie zugleich
Dorfärzte werden möchten. Andere stellen die Forderung auf, der zukünftige
Landprediger solle außer Polemik, Dogmatik, Ktrchengeschichte und Exegese
auch das Rechnungswesen, Pädagogik, Anatomie, Oekonomie und Jurisprudenz
treiben, damit er seinen Pfarrkindern in Wirthschafts- und Proceßsachen,
bei Krankheiten und bei der Kinderzucht mit Rath und That beistehen könne.
In der That fingen nun Geistliche an, diesen Forderungen nach Möglichkeit
zu entsprechen. Von H. G. Zerrenner erschienen 1783 Natur- und Acker¬
predigten, von R. G. Beyer 1805 Predigten über Gegenstände aus der Natur
(Sonne, Mond, Sterne, Licht, vom Weltmeer, vom Winter, vom Nutzen des
Donnerwetters), I. G. Rosenmüller predigte 1800 über die Fortschritte in
den Naturkenntnissen, welche im achtzehnten Jahrhundert gemacht worden
sind, I. I. Stolz über die Merkwürdigkeitrn des achtzehnten Jahrhunderts,
wobei Friedrich der Große, Bonaparte, die Preßfreiheit, die Schweiz, die ver¬
derbten Höfe behandelt wurden. Andere hielten Predigten über den Werth
des Feldbaues, über Bräche, über den Kartoffelbau, über Stallfütterung
(Weihnachtspredigt), übers Baumverderben (am Palmsonntag) oder über vor
sichtiges Umgehen mit Feuer und Licht. Auch medicinische Themata wurden
besprochen. W. L. Steinbrenner gab 1804 Predigten über die Kunst, das
menschliche Leben nach Hufland'schen Grundsätzen zu verlängern, heraus. In
F. L. v. Kalas Postille zum Vorlesen in Landkirchen (Hannover 1821) lautet


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[0400] Zeitgenossen sich wiederspiegewn. Als Probe der Behandlung des Materials geben wir auszugsweise und mit einigen Abkürzungen, was über die Neologen der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gesagt wird. Das Gemeinsame der neologischen Praktiker war, daß sie die Wahrheiten der natürlichen Religion und der aufklärenden Popularphilosophie auch als die Lehre des Christenthums ohne viel Respect vor symbolischen Büchern, Concilienbeschlüssen und kirchlichen Verdammungsurtheilen verkündigten. Sie redeten auf der Kanzel wenig von Erbsünde, Buße, Wiedergeburt, Menschwerdung Christi und Dreieinigkeit, weil alle diese Lehren ohne Einfluß auf die Gottseligkeit seien, desto mehr dagegen von der Nützlichkeit des Glaubens an Gott und an die Vorsehung, von der Unsterblichkeit der Seele und von möglicher Rückkehr aus der sittlichen Verschlimmerung zur Tugend und Glückseligkeit. Das Organ für die Religion war ihnen der Verstand, das Christenthum richtige Religionslehre, die beste Philosophie, das Unterscheidende des Christenthums die Anerkennung Jesu als des vorzüglichsten Religionslehrers, als des höchsten Reichsbedienten Gottes auf Erden. An die Stelle der Dogmatik trat in den Predigten die Moral. Aber die Nützlichkeit der geistlichen Amtsthätigkeit schien noch weiterer Steigerung fähig zu sein. Garve richtete 1772 an Zollt- kofer die Frage: „Sollten nicht zuletzt die Prediger die Lehrer aller gemein¬ nützigen Wissenschaften werden können," und Campe wünschte, daß sie zugleich Dorfärzte werden möchten. Andere stellen die Forderung auf, der zukünftige Landprediger solle außer Polemik, Dogmatik, Ktrchengeschichte und Exegese auch das Rechnungswesen, Pädagogik, Anatomie, Oekonomie und Jurisprudenz treiben, damit er seinen Pfarrkindern in Wirthschafts- und Proceßsachen, bei Krankheiten und bei der Kinderzucht mit Rath und That beistehen könne. In der That fingen nun Geistliche an, diesen Forderungen nach Möglichkeit zu entsprechen. Von H. G. Zerrenner erschienen 1783 Natur- und Acker¬ predigten, von R. G. Beyer 1805 Predigten über Gegenstände aus der Natur (Sonne, Mond, Sterne, Licht, vom Weltmeer, vom Winter, vom Nutzen des Donnerwetters), I. G. Rosenmüller predigte 1800 über die Fortschritte in den Naturkenntnissen, welche im achtzehnten Jahrhundert gemacht worden sind, I. I. Stolz über die Merkwürdigkeitrn des achtzehnten Jahrhunderts, wobei Friedrich der Große, Bonaparte, die Preßfreiheit, die Schweiz, die ver¬ derbten Höfe behandelt wurden. Andere hielten Predigten über den Werth des Feldbaues, über Bräche, über den Kartoffelbau, über Stallfütterung (Weihnachtspredigt), übers Baumverderben (am Palmsonntag) oder über vor sichtiges Umgehen mit Feuer und Licht. Auch medicinische Themata wurden besprochen. W. L. Steinbrenner gab 1804 Predigten über die Kunst, das menschliche Leben nach Hufland'schen Grundsätzen zu verlängern, heraus. In F. L. v. Kalas Postille zum Vorlesen in Landkirchen (Hannover 1821) lautet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/400>, abgerufen am 01.05.2024.