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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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das fünfzehnte Thema: "Wodurch gelangt der Menfch zu einem ruhigen
und sanften Schlafe?" In Gotha erschienen 1778 Predigten für Hypochon-
dristen, darin u. A. vom Spazierengehen (am zweiten Osterfeiertage) geredet
wurde. Anderswo wurde am Feste der Heimsuchung Maria über die Er¬
ziehung der Kinder vor der Geburt und zu Weihnachten über die Pflege der
Wöchnerinnen gepredigt. Besonders häufig aber kamen auf diesem Gebiete
Predigten über die Einimpfung der Blattern vor.

Seit der Verbannung der unnützen Streitfragen und der ängstlichen
Seelenführungsmethode von der Kanzel wollten auch die alten Kirchenlieder
nicht mehr behagen. "Ochsen- und Taubenkothhändler," so rief man, "müssen
aus dem Tempel vertrieben werden. O, ihr Conststoria, ihr Regenten, zwingt
uns doch nicht ferner, Tändeleien, Unsinn oder gar Skandale zu singen."
Friedrich der Große, damit ganz einverstanden, stellte es einem Jeden frei,
zu glauben und zu singen, was und wie er wolle -- auch so thöricht und
dummes Zeug wie: Nun ruhen alle Wälder."*) Es erschienen in allen
Gegenden neue Gesangbücher, die häufig neben Veralteten, Unbeholfenem
und Unsauberem auch Gediegenes und Edles beseitigten. So das Zollt-
kofer'sche, 1766, welches dem Herausgeber die Beschuldigung des Socinianis-
mus zuzog, so das zur Ablösung des alten Porst bestimmte neue Berliner,
welches der wackre Obereonststorialrath Direrich einführte, und gegen das der
Kaufmann Apitsch einen lebhaften Widerstand organistrte, so ferner das neue
Leipziger, von I. G. Rosenmüller gefördert, und so das Basedow'sche, (1781)
das für alle Kirchen und Secten bestimmt war und u. A. den Aufklärungs-
hhmnus enthält:


"Lobsingt, lobsingt dem Herrn;
Denn er hat uns befreit,
Es ist nunmehr von des Gewissens Tyrannei
Doch hie und da ein Plätzchen frei."

Wie gegen die alten Kirchenlieder, so lehnte man sich auch gegen die kirchlich
autorisirten Abgeschmacktheiten in der Liturgie auf, z, B. gegen den mit Zeter¬
geschrei und Augenverdrehen vollzogenen Exorcismus, diesen Greuel des
Aberglaubens und Scandal für wohlgesinnte Geistliche, sowie gegen die
Trauungsformel, in welcher dem reichen Kapitalbesitzer vom Essen seines Brotes
im Schweiße seines Angesichtes, dem armen Tagelöhner, der keinen Quadrat-



*) "So thöricht und dummes Zeug" hat auch Virgil, ^su. IV. S22 ff.
"nox ör",t, se pi^olatum earpsdü-ut less", soporsw,
Lorpora xor dei'rsL, Siloah^us et sitsv" ^uisiunt
^syuoi'Ä! quum meäio volvuutur Sikler" lapsu,
<Zuum taoot vllius ÄZsr, pLLuäes piotsöius volueros."
Grenzboten III. 187".

das fünfzehnte Thema: „Wodurch gelangt der Menfch zu einem ruhigen
und sanften Schlafe?" In Gotha erschienen 1778 Predigten für Hypochon-
dristen, darin u. A. vom Spazierengehen (am zweiten Osterfeiertage) geredet
wurde. Anderswo wurde am Feste der Heimsuchung Maria über die Er¬
ziehung der Kinder vor der Geburt und zu Weihnachten über die Pflege der
Wöchnerinnen gepredigt. Besonders häufig aber kamen auf diesem Gebiete
Predigten über die Einimpfung der Blattern vor.

Seit der Verbannung der unnützen Streitfragen und der ängstlichen
Seelenführungsmethode von der Kanzel wollten auch die alten Kirchenlieder
nicht mehr behagen. „Ochsen- und Taubenkothhändler," so rief man, „müssen
aus dem Tempel vertrieben werden. O, ihr Conststoria, ihr Regenten, zwingt
uns doch nicht ferner, Tändeleien, Unsinn oder gar Skandale zu singen."
Friedrich der Große, damit ganz einverstanden, stellte es einem Jeden frei,
zu glauben und zu singen, was und wie er wolle — auch so thöricht und
dummes Zeug wie: Nun ruhen alle Wälder."*) Es erschienen in allen
Gegenden neue Gesangbücher, die häufig neben Veralteten, Unbeholfenem
und Unsauberem auch Gediegenes und Edles beseitigten. So das Zollt-
kofer'sche, 1766, welches dem Herausgeber die Beschuldigung des Socinianis-
mus zuzog, so das zur Ablösung des alten Porst bestimmte neue Berliner,
welches der wackre Obereonststorialrath Direrich einführte, und gegen das der
Kaufmann Apitsch einen lebhaften Widerstand organistrte, so ferner das neue
Leipziger, von I. G. Rosenmüller gefördert, und so das Basedow'sche, (1781)
das für alle Kirchen und Secten bestimmt war und u. A. den Aufklärungs-
hhmnus enthält:


„Lobsingt, lobsingt dem Herrn;
Denn er hat uns befreit,
Es ist nunmehr von des Gewissens Tyrannei
Doch hie und da ein Plätzchen frei."

Wie gegen die alten Kirchenlieder, so lehnte man sich auch gegen die kirchlich
autorisirten Abgeschmacktheiten in der Liturgie auf, z, B. gegen den mit Zeter¬
geschrei und Augenverdrehen vollzogenen Exorcismus, diesen Greuel des
Aberglaubens und Scandal für wohlgesinnte Geistliche, sowie gegen die
Trauungsformel, in welcher dem reichen Kapitalbesitzer vom Essen seines Brotes
im Schweiße seines Angesichtes, dem armen Tagelöhner, der keinen Quadrat-



*) „So thöricht und dummes Zeug" hat auch Virgil, ^su. IV. S22 ff.
„nox ör»,t, se pi^olatum earpsdü-ut less», soporsw,
Lorpora xor dei'rsL, Siloah^us et sitsv» ^uisiunt
^syuoi'Ä! quum meäio volvuutur Sikler» lapsu,
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[0401] das fünfzehnte Thema: „Wodurch gelangt der Menfch zu einem ruhigen und sanften Schlafe?" In Gotha erschienen 1778 Predigten für Hypochon- dristen, darin u. A. vom Spazierengehen (am zweiten Osterfeiertage) geredet wurde. Anderswo wurde am Feste der Heimsuchung Maria über die Er¬ ziehung der Kinder vor der Geburt und zu Weihnachten über die Pflege der Wöchnerinnen gepredigt. Besonders häufig aber kamen auf diesem Gebiete Predigten über die Einimpfung der Blattern vor. Seit der Verbannung der unnützen Streitfragen und der ängstlichen Seelenführungsmethode von der Kanzel wollten auch die alten Kirchenlieder nicht mehr behagen. „Ochsen- und Taubenkothhändler," so rief man, „müssen aus dem Tempel vertrieben werden. O, ihr Conststoria, ihr Regenten, zwingt uns doch nicht ferner, Tändeleien, Unsinn oder gar Skandale zu singen." Friedrich der Große, damit ganz einverstanden, stellte es einem Jeden frei, zu glauben und zu singen, was und wie er wolle — auch so thöricht und dummes Zeug wie: Nun ruhen alle Wälder."*) Es erschienen in allen Gegenden neue Gesangbücher, die häufig neben Veralteten, Unbeholfenem und Unsauberem auch Gediegenes und Edles beseitigten. So das Zollt- kofer'sche, 1766, welches dem Herausgeber die Beschuldigung des Socinianis- mus zuzog, so das zur Ablösung des alten Porst bestimmte neue Berliner, welches der wackre Obereonststorialrath Direrich einführte, und gegen das der Kaufmann Apitsch einen lebhaften Widerstand organistrte, so ferner das neue Leipziger, von I. G. Rosenmüller gefördert, und so das Basedow'sche, (1781) das für alle Kirchen und Secten bestimmt war und u. A. den Aufklärungs- hhmnus enthält: „Lobsingt, lobsingt dem Herrn; Denn er hat uns befreit, Es ist nunmehr von des Gewissens Tyrannei Doch hie und da ein Plätzchen frei." Wie gegen die alten Kirchenlieder, so lehnte man sich auch gegen die kirchlich autorisirten Abgeschmacktheiten in der Liturgie auf, z, B. gegen den mit Zeter¬ geschrei und Augenverdrehen vollzogenen Exorcismus, diesen Greuel des Aberglaubens und Scandal für wohlgesinnte Geistliche, sowie gegen die Trauungsformel, in welcher dem reichen Kapitalbesitzer vom Essen seines Brotes im Schweiße seines Angesichtes, dem armen Tagelöhner, der keinen Quadrat- *) „So thöricht und dummes Zeug" hat auch Virgil, ^su. IV. S22 ff. „nox ör»,t, se pi^olatum earpsdü-ut less», soporsw, Lorpora xor dei'rsL, Siloah^us et sitsv» ^uisiunt ^syuoi'Ä! quum meäio volvuutur Sikler» lapsu, <Zuum taoot vllius ÄZsr, pLLuäes piotsöius volueros." Grenzboten III. 187«.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/401>, abgerufen am 07.05.2024.