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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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sich gehabt hat, so gewinnt es fast den Anschein, als habe er es absichtlich ver¬
schmäht, ihn zu benutzen, um ihn nicht einfach ausschreiben zu müssen; ein
einziges Mal hat er S. 226 eine Bemerkung wörtlich von ihm entlehnt,
sonst sticht er ihm nur noch einmal S. 237 eine falsche Jahreszahl auf, und
noch dazu eine, die vielleicht nur in Folge eines Druckfehlers entstanden ist;
mit ein klein wenig Liebenswürdigkeit hätte das Blümner sehen können.

Gänzlich aus dem Wege gegangen ist Blümner sprachlichen Erläute¬
rungen, und zwar mit voller Absichtlichkeit. Ob aber auch mit vollem
Rechte? Er sagt zwar im Vorwort, daß Leser, denen man Ausdrücke wie
"Parergon" oder "Mensur" in der Sprache der bildenden Kunst erklären
müsse, den "Laokoon" schwerlich überhaupt zur Hand nehmen werden. Aber
mit der Uebersetzung von ein paar Fremdwörtern ist doch die sprachliche Er¬
läuterung eines Lessing'schen Prosawerkes nicht abgethan. Lessing's Sprache
weicht, trotzdem daß sie nur um wenig mehr als ein Jahrhundert hinter uns
zurückliegt, mehr von der unsrigen ab, als man glauben sollte, in lexikalischer,
wie in grammatischer Beziehung. Lessing braucht z. B. im Laokoon eine
Menge Worte, die heute überhaupt veraltet sind, wie Schilderei, Widerspiel
u. a., ferner solche, deren Bedeutung sich jetzt vollständig verändert hat, und
die daher in demjenigen Sinne, in welchem sie Lessing anwendet, jetzt durch
andre ersetzt werden müssen, wie Antiquar (Archäolog), Virtuos (Künstler),
dogmatisch (didaktisch), gothisch (mittelalterlich), Anzüglichkeit (Reiz). Thätig¬
keiten (Thätlichkeiten), Ausschweifungen (Abschweifungen), Verstoßung (Ver¬
stoß), übersehen (überblicken), witzig (geistreich) u. a,. er braucht Fremdwörter,
die wir vermeiden, wie krüde, lururiren, und geht Fremdwörtern aus dem
Wege, die bei uns ganz gäng und gäbe geworden sind, wie Illusion, Sujet,
Amateur, Gruppe, abstrahiren, raisonniren, wofür er noch Täuschung, Vor¬
wurf, Liebhaber, zusammengesetztes Werk, abziehen oder absondern, vernünfteln
sagt. Beinahe etwas Rührendes hat es, zu sehen, wie Lessing sich abmüht,
z. B. bei Götterbildern den Unterschied der "typischen" und "dramatischen"
Darstellungsweise mit vielen Worten klar zu machen, oder dasjenige zu um¬
schreiben, was wir kurz als "conventionelle" Darstellungsweise bezeichnen.
Gänzlich veraltet in grammatischer Beziehung ist z. B. das Weglassen von
"haben" bei den Participien der Hilfszeitwörter wollen, können, müssen, sowie
bei lassen und sehen; niemand schreibt mehr, wie Lessing es stets thut: "der
Augenzeuge, der es machen sehen", "La Mettrie, der sich als einen zweiten
Demokrit malen lassen", "daß das Schöne allein zu herrschen scheinen können".
Veraltet sind mancherlei, scheinbare oder wirkliche, Latinismen und Gallicis¬
men, wie die Construction des Accusativs mit dem Infinitiv hinter urtheilen,
glauben u. a., die Negation hinter dem Comparativ, und unzähliges andre.
Nicht um den einzelnen Fall ist es hierbei zu thun, sondern um die Beob-


sich gehabt hat, so gewinnt es fast den Anschein, als habe er es absichtlich ver¬
schmäht, ihn zu benutzen, um ihn nicht einfach ausschreiben zu müssen; ein
einziges Mal hat er S. 226 eine Bemerkung wörtlich von ihm entlehnt,
sonst sticht er ihm nur noch einmal S. 237 eine falsche Jahreszahl auf, und
noch dazu eine, die vielleicht nur in Folge eines Druckfehlers entstanden ist;
mit ein klein wenig Liebenswürdigkeit hätte das Blümner sehen können.

Gänzlich aus dem Wege gegangen ist Blümner sprachlichen Erläute¬
rungen, und zwar mit voller Absichtlichkeit. Ob aber auch mit vollem
Rechte? Er sagt zwar im Vorwort, daß Leser, denen man Ausdrücke wie
„Parergon" oder „Mensur" in der Sprache der bildenden Kunst erklären
müsse, den „Laokoon" schwerlich überhaupt zur Hand nehmen werden. Aber
mit der Uebersetzung von ein paar Fremdwörtern ist doch die sprachliche Er¬
läuterung eines Lessing'schen Prosawerkes nicht abgethan. Lessing's Sprache
weicht, trotzdem daß sie nur um wenig mehr als ein Jahrhundert hinter uns
zurückliegt, mehr von der unsrigen ab, als man glauben sollte, in lexikalischer,
wie in grammatischer Beziehung. Lessing braucht z. B. im Laokoon eine
Menge Worte, die heute überhaupt veraltet sind, wie Schilderei, Widerspiel
u. a., ferner solche, deren Bedeutung sich jetzt vollständig verändert hat, und
die daher in demjenigen Sinne, in welchem sie Lessing anwendet, jetzt durch
andre ersetzt werden müssen, wie Antiquar (Archäolog), Virtuos (Künstler),
dogmatisch (didaktisch), gothisch (mittelalterlich), Anzüglichkeit (Reiz). Thätig¬
keiten (Thätlichkeiten), Ausschweifungen (Abschweifungen), Verstoßung (Ver¬
stoß), übersehen (überblicken), witzig (geistreich) u. a,. er braucht Fremdwörter,
die wir vermeiden, wie krüde, lururiren, und geht Fremdwörtern aus dem
Wege, die bei uns ganz gäng und gäbe geworden sind, wie Illusion, Sujet,
Amateur, Gruppe, abstrahiren, raisonniren, wofür er noch Täuschung, Vor¬
wurf, Liebhaber, zusammengesetztes Werk, abziehen oder absondern, vernünfteln
sagt. Beinahe etwas Rührendes hat es, zu sehen, wie Lessing sich abmüht,
z. B. bei Götterbildern den Unterschied der „typischen" und „dramatischen"
Darstellungsweise mit vielen Worten klar zu machen, oder dasjenige zu um¬
schreiben, was wir kurz als „conventionelle" Darstellungsweise bezeichnen.
Gänzlich veraltet in grammatischer Beziehung ist z. B. das Weglassen von
„haben" bei den Participien der Hilfszeitwörter wollen, können, müssen, sowie
bei lassen und sehen; niemand schreibt mehr, wie Lessing es stets thut: „der
Augenzeuge, der es machen sehen", „La Mettrie, der sich als einen zweiten
Demokrit malen lassen", „daß das Schöne allein zu herrschen scheinen können".
Veraltet sind mancherlei, scheinbare oder wirkliche, Latinismen und Gallicis¬
men, wie die Construction des Accusativs mit dem Infinitiv hinter urtheilen,
glauben u. a., die Negation hinter dem Comparativ, und unzähliges andre.
Nicht um den einzelnen Fall ist es hierbei zu thun, sondern um die Beob-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/424>, abgerufen am 15.05.2024.