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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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des nationalen Staates sich jahrelang in dem Besitz der politischen Herrschaft
behaupteten, nur allzu geneigt schienen, mit einer oberflächlich den neuen
Verhältnissen angepaßten Routine die Dinge im Grunde zu lassen, wie sie
immer gewesen waren. Ein bequemes Genußleben der höheren Stände, Ar¬
muth und Trägheit der großen Masse des Volkes, welche freilich durch
mancherlei günstige Umstände des Klimas Und des Volkscharakters nicht zum
äußersten Elend entartet, im Ganzen ein Stillstand der geistigen und wirth¬
schaftlichen Produktion : dies sind die Charakterzüge, welche Italien kennzeichne¬
ten während der Epoche seiner Zerrissenheit und unter der Mißwirthschaft
despotischer Regierungen. Es scheint nicht, daß diese Physiognomie des
Nationallebens, nachdem der Druck so vieler Fesseln von demselben genom¬
men, sich so rasch zum Bessern ändern wolle, als in und außer Italien ge¬
hofft worden ist. Die italienische Demokratie ist es, welche auf diesen
Mangel warnend und mahnend hingewiesen und einen gründlicheren Heilungs¬
prozeß des Volkes und der öffentlichen Institutionen seit Jahren verlangt
hat. Ob sie im Besitz der rechten Mittel, hat sie seit dem jüngsten Minister-
Wechsel zum ersten Mal Gelegenheit erhalten zu zeigen.

Daß zu den Anforderungen der italienischen Demokratie der Bruch mit dem
Papstthum gehört, ist bekannt, und es scheint sehr der Mühe werth, von der Art
Kenntniß zu nehmen, wie diese Forderung in den oben genannten Nummern
des "Diritto" durch einen jungen italienischen Denker, Herrn Raffaele Ma-
riano begründet und welcher Weg als zur Erreichung des Zieles führend
ins Auge gefaßt wird.

Die Aufsätze haben die Form von Briefen an den Direktor des Diritto.
Der Verfasser wendet sich zuerst gegen den Gedanken, als seien der römische
Katholicismus und das Papstthum, die er für identisch und auf immer un¬
trennbar erklärt, einer Verbesserung fähig. Am wenigsten sei eine solche
möglich durch den Versuch der Rückkehr zum Urchristenthum. Denn wozu
man mit einer solchen Rückkehr allein gelangen könne, die niemals
bloße Rückkehr, sondern ebenso Neuschöpfung sein müsse, habe die deutsche
Reformation gezeigt. Die erste Ausführung Mariano's gipfelt in dem Satz:
wenn von irgend einer Institution das Wort gelte: sit ut <zsr, aut, no" sit,
so sei das Papstthum diese Institution. Wohl sei in derselben eine Be¬
wegung, aber kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt; kein Aufwärtsgehen
zur Freiheit und Vergeistigung, sondern ein Herabsteigen zur Knechtung und
zur groben Natürlichkeit in den Wirkungsmitteln. Aus diesem Grund sieht
Mariano in den Dekreten des vatikanischen Concils ein natürliches Ergebniß
und hält den Reformgedanken der liberalen Katholiken Italiens gleicher-
maßen für hoffnungslos wie die Versuche der deutschen Altkatholiken. In
Betreff der letzteren widerspricht er sich allerdings später.


des nationalen Staates sich jahrelang in dem Besitz der politischen Herrschaft
behaupteten, nur allzu geneigt schienen, mit einer oberflächlich den neuen
Verhältnissen angepaßten Routine die Dinge im Grunde zu lassen, wie sie
immer gewesen waren. Ein bequemes Genußleben der höheren Stände, Ar¬
muth und Trägheit der großen Masse des Volkes, welche freilich durch
mancherlei günstige Umstände des Klimas Und des Volkscharakters nicht zum
äußersten Elend entartet, im Ganzen ein Stillstand der geistigen und wirth¬
schaftlichen Produktion : dies sind die Charakterzüge, welche Italien kennzeichne¬
ten während der Epoche seiner Zerrissenheit und unter der Mißwirthschaft
despotischer Regierungen. Es scheint nicht, daß diese Physiognomie des
Nationallebens, nachdem der Druck so vieler Fesseln von demselben genom¬
men, sich so rasch zum Bessern ändern wolle, als in und außer Italien ge¬
hofft worden ist. Die italienische Demokratie ist es, welche auf diesen
Mangel warnend und mahnend hingewiesen und einen gründlicheren Heilungs¬
prozeß des Volkes und der öffentlichen Institutionen seit Jahren verlangt
hat. Ob sie im Besitz der rechten Mittel, hat sie seit dem jüngsten Minister-
Wechsel zum ersten Mal Gelegenheit erhalten zu zeigen.

Daß zu den Anforderungen der italienischen Demokratie der Bruch mit dem
Papstthum gehört, ist bekannt, und es scheint sehr der Mühe werth, von der Art
Kenntniß zu nehmen, wie diese Forderung in den oben genannten Nummern
des „Diritto" durch einen jungen italienischen Denker, Herrn Raffaele Ma-
riano begründet und welcher Weg als zur Erreichung des Zieles führend
ins Auge gefaßt wird.

Die Aufsätze haben die Form von Briefen an den Direktor des Diritto.
Der Verfasser wendet sich zuerst gegen den Gedanken, als seien der römische
Katholicismus und das Papstthum, die er für identisch und auf immer un¬
trennbar erklärt, einer Verbesserung fähig. Am wenigsten sei eine solche
möglich durch den Versuch der Rückkehr zum Urchristenthum. Denn wozu
man mit einer solchen Rückkehr allein gelangen könne, die niemals
bloße Rückkehr, sondern ebenso Neuschöpfung sein müsse, habe die deutsche
Reformation gezeigt. Die erste Ausführung Mariano's gipfelt in dem Satz:
wenn von irgend einer Institution das Wort gelte: sit ut <zsr, aut, no» sit,
so sei das Papstthum diese Institution. Wohl sei in derselben eine Be¬
wegung, aber kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt; kein Aufwärtsgehen
zur Freiheit und Vergeistigung, sondern ein Herabsteigen zur Knechtung und
zur groben Natürlichkeit in den Wirkungsmitteln. Aus diesem Grund sieht
Mariano in den Dekreten des vatikanischen Concils ein natürliches Ergebniß
und hält den Reformgedanken der liberalen Katholiken Italiens gleicher-
maßen für hoffnungslos wie die Versuche der deutschen Altkatholiken. In
Betreff der letzteren widerspricht er sich allerdings später.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/438>, abgerufen am 05.05.2024.