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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Richtung, etwas für die Erweckung des Volksgewissens zu leisten. Er bleibt
dabei stehen und weist nach, daß die Thätigkeit des Gewissens nur auf
dem Grunde der Religion hervorzurufen und richtig zu leiten ist. Er spricht
in derselben Ausführung, wie er denn überhaupt an glücklichen und über¬
raschenden Wendungen reich ist, den Satz aus: die sogenannten freien Denker
seien vielmehr freie Nichtdenker. Wem fallen dabei nicht die Freidenker ein
wie sie in dem Prozeß Sonzogno so charakteristisch als Typen gewisser Klassen
des italienischen Volkes zum Vorschein gekommen? Unter Freidenker versteht
man in Italien vielfach eine Denkungsart, welche die geistigen Beziehungen
des menschlichen Lebens einfach leugnet und von dem Aufbau einer sittlichen
Welt durch die Arbeit des Menschen überall Abstand nimmt.

In dem vierten Brief beleuchtet Mariano das Verhältniß zwischen Staat
und Kirche. Er verwirft entschieden die Cavour'sche Formel und kritisirt die¬
selbe wiederum mit einer sehr glücklichen Wendung. Er sagt nämlich: "nach
dieser Formel soll der Staat den Bürger nehmen, die Kirche den Menschen;
aber der Bürger folgt lediglich dem Menschen". Der Verfasser zeigt bei dieser
Gelegenheit auch Bekanntschaft mit derjenigen deutschen Literatur, welche das
Verhältniß zwischen Staat und Kirche neuerdings zum Gegenstand ge¬
nommen hat.

In dem fünften Briefe behandelt Mariano das Verhältniß der Wissen¬
schaft zu dem religiösen Problem Italiens. Er unterscheidet mit großem
Nachdruck zwischen der philosophischen oder speculativen Wissenschaft und
zwischen der sogenannten exacten, die wesentlich Philosophie ist. Er führt
aus, daß die Philosophie zwar niemals die Religion ersetzen kann, daß aber
allerdings unter dem Einfluß der Philosophie die Religion reinere Gestalten
erreichen könne. Er erwartet eine solche Gestalt für den deutschen Protestan¬
tismus von dem Einfluß der deutschen Philosophie. Wir führen die Worte
an, worin der Verfasser diese Zuversicht ausdrückt: "Es wird jetzt so allge¬
mein gefühlt, daß man ein Pfand darauf geben könnte, daß der Protestantis¬
mus in unseren Tagen eine Uebergangsperiode durchschreitet, aus welcher er
erneuert hervorgehen wird, vergeistigter und, wenn ich so sagen kann, ver-
christlichter". In den darauf folgenden Sätzen führt der Verfasser aus, daß
diese Reinigung des Protestantismus nicht sowohl durch eine spontane Be¬
wegung des religiösen Gefühls erfolgen wird, als durch die Einwirkung der
biblischen nicht zerstörenden, sondern aufbauenden Kritik und durch die nicht
minder positive Natur des philosophischen Idealismus.

Im sechsten und letzten Briefe untersucht der Verfasser, ob nicht die
Feindschaft der heutigen sogenannten exacten Wissenschaft gegen Alles, was
Idealismus und Speculatton in sich begreift, jede Hoffnung zu nichte macht,
unter der Vorherrschaft jener Geistesrichtung, zu einer Wiederbelebung der


Richtung, etwas für die Erweckung des Volksgewissens zu leisten. Er bleibt
dabei stehen und weist nach, daß die Thätigkeit des Gewissens nur auf
dem Grunde der Religion hervorzurufen und richtig zu leiten ist. Er spricht
in derselben Ausführung, wie er denn überhaupt an glücklichen und über¬
raschenden Wendungen reich ist, den Satz aus: die sogenannten freien Denker
seien vielmehr freie Nichtdenker. Wem fallen dabei nicht die Freidenker ein
wie sie in dem Prozeß Sonzogno so charakteristisch als Typen gewisser Klassen
des italienischen Volkes zum Vorschein gekommen? Unter Freidenker versteht
man in Italien vielfach eine Denkungsart, welche die geistigen Beziehungen
des menschlichen Lebens einfach leugnet und von dem Aufbau einer sittlichen
Welt durch die Arbeit des Menschen überall Abstand nimmt.

In dem vierten Brief beleuchtet Mariano das Verhältniß zwischen Staat
und Kirche. Er verwirft entschieden die Cavour'sche Formel und kritisirt die¬
selbe wiederum mit einer sehr glücklichen Wendung. Er sagt nämlich: „nach
dieser Formel soll der Staat den Bürger nehmen, die Kirche den Menschen;
aber der Bürger folgt lediglich dem Menschen". Der Verfasser zeigt bei dieser
Gelegenheit auch Bekanntschaft mit derjenigen deutschen Literatur, welche das
Verhältniß zwischen Staat und Kirche neuerdings zum Gegenstand ge¬
nommen hat.

In dem fünften Briefe behandelt Mariano das Verhältniß der Wissen¬
schaft zu dem religiösen Problem Italiens. Er unterscheidet mit großem
Nachdruck zwischen der philosophischen oder speculativen Wissenschaft und
zwischen der sogenannten exacten, die wesentlich Philosophie ist. Er führt
aus, daß die Philosophie zwar niemals die Religion ersetzen kann, daß aber
allerdings unter dem Einfluß der Philosophie die Religion reinere Gestalten
erreichen könne. Er erwartet eine solche Gestalt für den deutschen Protestan¬
tismus von dem Einfluß der deutschen Philosophie. Wir führen die Worte
an, worin der Verfasser diese Zuversicht ausdrückt: „Es wird jetzt so allge¬
mein gefühlt, daß man ein Pfand darauf geben könnte, daß der Protestantis¬
mus in unseren Tagen eine Uebergangsperiode durchschreitet, aus welcher er
erneuert hervorgehen wird, vergeistigter und, wenn ich so sagen kann, ver-
christlichter". In den darauf folgenden Sätzen führt der Verfasser aus, daß
diese Reinigung des Protestantismus nicht sowohl durch eine spontane Be¬
wegung des religiösen Gefühls erfolgen wird, als durch die Einwirkung der
biblischen nicht zerstörenden, sondern aufbauenden Kritik und durch die nicht
minder positive Natur des philosophischen Idealismus.

Im sechsten und letzten Briefe untersucht der Verfasser, ob nicht die
Feindschaft der heutigen sogenannten exacten Wissenschaft gegen Alles, was
Idealismus und Speculatton in sich begreift, jede Hoffnung zu nichte macht,
unter der Vorherrschaft jener Geistesrichtung, zu einer Wiederbelebung der


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[0440] Richtung, etwas für die Erweckung des Volksgewissens zu leisten. Er bleibt dabei stehen und weist nach, daß die Thätigkeit des Gewissens nur auf dem Grunde der Religion hervorzurufen und richtig zu leiten ist. Er spricht in derselben Ausführung, wie er denn überhaupt an glücklichen und über¬ raschenden Wendungen reich ist, den Satz aus: die sogenannten freien Denker seien vielmehr freie Nichtdenker. Wem fallen dabei nicht die Freidenker ein wie sie in dem Prozeß Sonzogno so charakteristisch als Typen gewisser Klassen des italienischen Volkes zum Vorschein gekommen? Unter Freidenker versteht man in Italien vielfach eine Denkungsart, welche die geistigen Beziehungen des menschlichen Lebens einfach leugnet und von dem Aufbau einer sittlichen Welt durch die Arbeit des Menschen überall Abstand nimmt. In dem vierten Brief beleuchtet Mariano das Verhältniß zwischen Staat und Kirche. Er verwirft entschieden die Cavour'sche Formel und kritisirt die¬ selbe wiederum mit einer sehr glücklichen Wendung. Er sagt nämlich: „nach dieser Formel soll der Staat den Bürger nehmen, die Kirche den Menschen; aber der Bürger folgt lediglich dem Menschen". Der Verfasser zeigt bei dieser Gelegenheit auch Bekanntschaft mit derjenigen deutschen Literatur, welche das Verhältniß zwischen Staat und Kirche neuerdings zum Gegenstand ge¬ nommen hat. In dem fünften Briefe behandelt Mariano das Verhältniß der Wissen¬ schaft zu dem religiösen Problem Italiens. Er unterscheidet mit großem Nachdruck zwischen der philosophischen oder speculativen Wissenschaft und zwischen der sogenannten exacten, die wesentlich Philosophie ist. Er führt aus, daß die Philosophie zwar niemals die Religion ersetzen kann, daß aber allerdings unter dem Einfluß der Philosophie die Religion reinere Gestalten erreichen könne. Er erwartet eine solche Gestalt für den deutschen Protestan¬ tismus von dem Einfluß der deutschen Philosophie. Wir führen die Worte an, worin der Verfasser diese Zuversicht ausdrückt: „Es wird jetzt so allge¬ mein gefühlt, daß man ein Pfand darauf geben könnte, daß der Protestantis¬ mus in unseren Tagen eine Uebergangsperiode durchschreitet, aus welcher er erneuert hervorgehen wird, vergeistigter und, wenn ich so sagen kann, ver- christlichter". In den darauf folgenden Sätzen führt der Verfasser aus, daß diese Reinigung des Protestantismus nicht sowohl durch eine spontane Be¬ wegung des religiösen Gefühls erfolgen wird, als durch die Einwirkung der biblischen nicht zerstörenden, sondern aufbauenden Kritik und durch die nicht minder positive Natur des philosophischen Idealismus. Im sechsten und letzten Briefe untersucht der Verfasser, ob nicht die Feindschaft der heutigen sogenannten exacten Wissenschaft gegen Alles, was Idealismus und Speculatton in sich begreift, jede Hoffnung zu nichte macht, unter der Vorherrschaft jener Geistesrichtung, zu einer Wiederbelebung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/440>, abgerufen am 17.06.2024.