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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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angehenden Mittelalters steht uns näher, als diese gothische. Wir kennen die
Sprache, die Verhältnisse, die Geschicke der Ostgothen genauer als die irgend
eines germanischen Stammes, und welche großartige Tragik liegt doch in
diesem Geschick! Eine Herrscherkraft ersten Ranges, ein hochbegabter Volks¬
stamm scheitern an dem unmöglichen Versuche, in dem alten Culturlande
Italien, inmitten eines an Zahl und Bildung ungleich überlegenen, durch
Sprache und Religion von den Einwanderern getrennten Volkes, ohne Zu¬
sammenhang mit der germanischen Heimath, im Kampfe mit dem alten
Culturstaate von Byzanz ein Reich zu gründen und zu behaupten mit wenigen
Hunderttausenden kriegerischer Landbauern, denen nur zweierlei eine kurz¬
dauernde Ueberlegenheit gab, die frische Volkskraft und die kriegerische Tüchtig¬
keit, und denen das ungewohnte Klima und der Luxus des Südens diese
einzigen Bürgschaften ihrer Existenz rasch genug entzog.

Kommt von vornherein menschliche Theilnahme diesem Todeskampf eines
ganzen Volkes entgegen, so wird sie noch dadurch wachsen, daß wir hier die
Ereignisse genau zu verfolgen vermögen. Insofern war F. Dahn günstig
genug gestellt; war doch seine Hauptquelle jener Procopius von Cäsarea, der
unter den Historikern der byzantinischen Zeit unbestritten den ersten Rang
einnimmt. Aber wenn die größere Handlung bis ins Einzelne hinein bekannt
ist. über das innerste Wesen der Handelnden erfahren wir doch nur wenig;
beruht ja unsere Kenntniß lediglich auf dem Berichte des Vertreters einer
Partei, der Byzantiner; in das Seelenleben der Gothen hineinzusehen, sie zu
begreifen in ihren Entschlüssen und ihren Motiven, uns mit einem Worte
ihre Helden menschlich nahe zu bringen, das ist uns aus den historischen
Darstellungen allein fast unmöglich. Ein um so weiteres Feld eröffnet sich
hier dem Dichter. An die äußere Handlung war er wesentlich gebunden,
Menschen von Fleisch und Blut zu schaffen -- in den historischen Schranken
-- das war fast ausschließlich sein Werk. Sehen wir, wie er sich mit beiden,
mit den äußeren Thatsachen und mit den Personen abgefunden hat.

Der Todeskampf des ostgothischen Reiches umfaßt die ganze Zeit ovo
Tode Theodorichs bis zur Schlacht am Vesuv, von 526 bis SS2. Ein so
langer Zeitraum läßt sich im Rahmen eines Romans unverkürzt nicht dar¬
stellen. Dahn hatte also die Wahl, entweder eine Episode herauszugreifen
oder das Ganze in seiner Darstellung auf kürzere Zeit zusammenzudrängen-
Er hat das Letztere gewählt, er hat, wie er selbst in der Vorrede sagt, die
Länge des Zeitraums "verschleiert." In der That fehlen in seiner Dichtung
genauere Zeitangaben fast ganz und seine Helden erscheinen am Ende nicht
wesentlich älter, als am Anfange. Es wird nicht zu läugnen sein, daß dadurch
eine gewisse Unklarheit hervorgerufen wird. Eine nothwendige Folge des
Verfahrens war aber vor allem, daß er sich sehr starke Abweichungen von


angehenden Mittelalters steht uns näher, als diese gothische. Wir kennen die
Sprache, die Verhältnisse, die Geschicke der Ostgothen genauer als die irgend
eines germanischen Stammes, und welche großartige Tragik liegt doch in
diesem Geschick! Eine Herrscherkraft ersten Ranges, ein hochbegabter Volks¬
stamm scheitern an dem unmöglichen Versuche, in dem alten Culturlande
Italien, inmitten eines an Zahl und Bildung ungleich überlegenen, durch
Sprache und Religion von den Einwanderern getrennten Volkes, ohne Zu¬
sammenhang mit der germanischen Heimath, im Kampfe mit dem alten
Culturstaate von Byzanz ein Reich zu gründen und zu behaupten mit wenigen
Hunderttausenden kriegerischer Landbauern, denen nur zweierlei eine kurz¬
dauernde Ueberlegenheit gab, die frische Volkskraft und die kriegerische Tüchtig¬
keit, und denen das ungewohnte Klima und der Luxus des Südens diese
einzigen Bürgschaften ihrer Existenz rasch genug entzog.

Kommt von vornherein menschliche Theilnahme diesem Todeskampf eines
ganzen Volkes entgegen, so wird sie noch dadurch wachsen, daß wir hier die
Ereignisse genau zu verfolgen vermögen. Insofern war F. Dahn günstig
genug gestellt; war doch seine Hauptquelle jener Procopius von Cäsarea, der
unter den Historikern der byzantinischen Zeit unbestritten den ersten Rang
einnimmt. Aber wenn die größere Handlung bis ins Einzelne hinein bekannt
ist. über das innerste Wesen der Handelnden erfahren wir doch nur wenig;
beruht ja unsere Kenntniß lediglich auf dem Berichte des Vertreters einer
Partei, der Byzantiner; in das Seelenleben der Gothen hineinzusehen, sie zu
begreifen in ihren Entschlüssen und ihren Motiven, uns mit einem Worte
ihre Helden menschlich nahe zu bringen, das ist uns aus den historischen
Darstellungen allein fast unmöglich. Ein um so weiteres Feld eröffnet sich
hier dem Dichter. An die äußere Handlung war er wesentlich gebunden,
Menschen von Fleisch und Blut zu schaffen — in den historischen Schranken
— das war fast ausschließlich sein Werk. Sehen wir, wie er sich mit beiden,
mit den äußeren Thatsachen und mit den Personen abgefunden hat.

Der Todeskampf des ostgothischen Reiches umfaßt die ganze Zeit ovo
Tode Theodorichs bis zur Schlacht am Vesuv, von 526 bis SS2. Ein so
langer Zeitraum läßt sich im Rahmen eines Romans unverkürzt nicht dar¬
stellen. Dahn hatte also die Wahl, entweder eine Episode herauszugreifen
oder das Ganze in seiner Darstellung auf kürzere Zeit zusammenzudrängen-
Er hat das Letztere gewählt, er hat, wie er selbst in der Vorrede sagt, die
Länge des Zeitraums „verschleiert." In der That fehlen in seiner Dichtung
genauere Zeitangaben fast ganz und seine Helden erscheinen am Ende nicht
wesentlich älter, als am Anfange. Es wird nicht zu läugnen sein, daß dadurch
eine gewisse Unklarheit hervorgerufen wird. Eine nothwendige Folge des
Verfahrens war aber vor allem, daß er sich sehr starke Abweichungen von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/126>, abgerufen am 16.05.2024.