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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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der Wirklichkeit gestatten, eine Menge Thatsachen einfach streichen mußte.
So werden die Jahre nach Mtiges Untergange, die damals einander rasch
folgende Erhebung zweier Könige, des Erarich und Jldibald, übergangen;
Belisar erscheint nur einmal in Italien statt zweimal; zu Totilas Zeit wird
Rom nur einmal belagert und genommen, die Entsatzversuche Belisars, der
Verlust der Stadt an die Byzantiner, ihre abermalige Einnahme durch die Gothen
und ihre endgiltige Eroberung durch Narses, für alles dies ist bei Dahn kein
Platz. Andere Abweichungen, wie das Erscheinen Alboins neben Narses, der
Abzug der letzten Gothen auf einer nordischen Flotte u. a. in. sind mehr
nebensächlich. Sicher muß auch dem Romandichter eine gewisse Freiheit in
der Behandlung eines historischen Stoffes erlaubt sein, ob aber eine so große,
wie sie sich Dahn genommen, das ist doch zweifelhaft, wenn nun einmal
die Dichtung ein treues Bild der Ereignisse geben soll. Eine ganze Reihe
von Aenderungen hängt außerdem mit Dahn's Darstellung der handelnden
Personen aufs Engste zusammen.

In der Auffassung ihrer Handlungen sowohl, als ihrer Charaktere,
war er viel weniger beengt; innerhalb des gegebenen, aber ziemlich weiten
Rahmens hat er sich frei bewegen können, und er hat diese Freiheit be¬
nützt, um die Schicksale wie selbst das persönliche Wesen der Einzelnen oft
selbständig zu gestalten, überlieferte Züge tiefer zu begründen und weiter
auszuführen, ganz neue hinzu zu erfinden, und eben darin hat er unleugbar
eine große poetische Kraft entfaltet. Er hat es verstanden, in die große
Tragödie eine Reihe persönlicher Tragödien einzuflechten, besonders auch das
Jntriguenspiel meisterhaft zu schildern, die Charaktere der Hauptpersonen
scharf und lebendig herauszuarbeiten.

Eine Reihe von Beispielen mag dies näher begründen. Gewaltig, noch
im Leben fast zur sagenhaften Gestalt geworden, tritt Theodorich auf, nur
einmal, und zwar an seinem Todestage. Er stirbt mit der peinvollen Er¬
kenntniß, daß er umsonst gearbeitet, daß Niemand nach ihm das Reich halten
könne, aber nicht die Erinnerung an den Tod des Symmachus und Boethius
Peinigt ihn, wie die Ueberlieferung meldet -- "sie waren Verräther" -- sondern
die Ermordung seines germanischen Gegners Odoaker; für diese That, fürchtet
er. werde das göttliche Strafgericht sein ganzes Volk treffen. Breiter entfaltet
sich die Darstellung seiner Tochter und Nachfolgerin Amalaswintha. Sie er¬
scheint, wie sie war, verwälscht, dem eignen Volke abgewendet und den Ro¬
manen hingegeben; so wird sie zum Verbrechen -- der Ermordung ihrer
gothischen Hauptgegner -- angetrieben, das ihr die letzte Zuneigung des
eignen Volkes raubt und doch die Römer nicht gewinnt, schließlich von den
Gothen entsetzt, von ihrer Feindin Gothelindis, der Gemahlin Theodahads,
of Verderben gelockt, aber zur Erkenntniß ihres Frevels gekommen, warnt


der Wirklichkeit gestatten, eine Menge Thatsachen einfach streichen mußte.
So werden die Jahre nach Mtiges Untergange, die damals einander rasch
folgende Erhebung zweier Könige, des Erarich und Jldibald, übergangen;
Belisar erscheint nur einmal in Italien statt zweimal; zu Totilas Zeit wird
Rom nur einmal belagert und genommen, die Entsatzversuche Belisars, der
Verlust der Stadt an die Byzantiner, ihre abermalige Einnahme durch die Gothen
und ihre endgiltige Eroberung durch Narses, für alles dies ist bei Dahn kein
Platz. Andere Abweichungen, wie das Erscheinen Alboins neben Narses, der
Abzug der letzten Gothen auf einer nordischen Flotte u. a. in. sind mehr
nebensächlich. Sicher muß auch dem Romandichter eine gewisse Freiheit in
der Behandlung eines historischen Stoffes erlaubt sein, ob aber eine so große,
wie sie sich Dahn genommen, das ist doch zweifelhaft, wenn nun einmal
die Dichtung ein treues Bild der Ereignisse geben soll. Eine ganze Reihe
von Aenderungen hängt außerdem mit Dahn's Darstellung der handelnden
Personen aufs Engste zusammen.

In der Auffassung ihrer Handlungen sowohl, als ihrer Charaktere,
war er viel weniger beengt; innerhalb des gegebenen, aber ziemlich weiten
Rahmens hat er sich frei bewegen können, und er hat diese Freiheit be¬
nützt, um die Schicksale wie selbst das persönliche Wesen der Einzelnen oft
selbständig zu gestalten, überlieferte Züge tiefer zu begründen und weiter
auszuführen, ganz neue hinzu zu erfinden, und eben darin hat er unleugbar
eine große poetische Kraft entfaltet. Er hat es verstanden, in die große
Tragödie eine Reihe persönlicher Tragödien einzuflechten, besonders auch das
Jntriguenspiel meisterhaft zu schildern, die Charaktere der Hauptpersonen
scharf und lebendig herauszuarbeiten.

Eine Reihe von Beispielen mag dies näher begründen. Gewaltig, noch
im Leben fast zur sagenhaften Gestalt geworden, tritt Theodorich auf, nur
einmal, und zwar an seinem Todestage. Er stirbt mit der peinvollen Er¬
kenntniß, daß er umsonst gearbeitet, daß Niemand nach ihm das Reich halten
könne, aber nicht die Erinnerung an den Tod des Symmachus und Boethius
Peinigt ihn, wie die Ueberlieferung meldet — „sie waren Verräther" — sondern
die Ermordung seines germanischen Gegners Odoaker; für diese That, fürchtet
er. werde das göttliche Strafgericht sein ganzes Volk treffen. Breiter entfaltet
sich die Darstellung seiner Tochter und Nachfolgerin Amalaswintha. Sie er¬
scheint, wie sie war, verwälscht, dem eignen Volke abgewendet und den Ro¬
manen hingegeben; so wird sie zum Verbrechen — der Ermordung ihrer
gothischen Hauptgegner — angetrieben, das ihr die letzte Zuneigung des
eignen Volkes raubt und doch die Römer nicht gewinnt, schließlich von den
Gothen entsetzt, von ihrer Feindin Gothelindis, der Gemahlin Theodahads,
of Verderben gelockt, aber zur Erkenntniß ihres Frevels gekommen, warnt


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[0127] der Wirklichkeit gestatten, eine Menge Thatsachen einfach streichen mußte. So werden die Jahre nach Mtiges Untergange, die damals einander rasch folgende Erhebung zweier Könige, des Erarich und Jldibald, übergangen; Belisar erscheint nur einmal in Italien statt zweimal; zu Totilas Zeit wird Rom nur einmal belagert und genommen, die Entsatzversuche Belisars, der Verlust der Stadt an die Byzantiner, ihre abermalige Einnahme durch die Gothen und ihre endgiltige Eroberung durch Narses, für alles dies ist bei Dahn kein Platz. Andere Abweichungen, wie das Erscheinen Alboins neben Narses, der Abzug der letzten Gothen auf einer nordischen Flotte u. a. in. sind mehr nebensächlich. Sicher muß auch dem Romandichter eine gewisse Freiheit in der Behandlung eines historischen Stoffes erlaubt sein, ob aber eine so große, wie sie sich Dahn genommen, das ist doch zweifelhaft, wenn nun einmal die Dichtung ein treues Bild der Ereignisse geben soll. Eine ganze Reihe von Aenderungen hängt außerdem mit Dahn's Darstellung der handelnden Personen aufs Engste zusammen. In der Auffassung ihrer Handlungen sowohl, als ihrer Charaktere, war er viel weniger beengt; innerhalb des gegebenen, aber ziemlich weiten Rahmens hat er sich frei bewegen können, und er hat diese Freiheit be¬ nützt, um die Schicksale wie selbst das persönliche Wesen der Einzelnen oft selbständig zu gestalten, überlieferte Züge tiefer zu begründen und weiter auszuführen, ganz neue hinzu zu erfinden, und eben darin hat er unleugbar eine große poetische Kraft entfaltet. Er hat es verstanden, in die große Tragödie eine Reihe persönlicher Tragödien einzuflechten, besonders auch das Jntriguenspiel meisterhaft zu schildern, die Charaktere der Hauptpersonen scharf und lebendig herauszuarbeiten. Eine Reihe von Beispielen mag dies näher begründen. Gewaltig, noch im Leben fast zur sagenhaften Gestalt geworden, tritt Theodorich auf, nur einmal, und zwar an seinem Todestage. Er stirbt mit der peinvollen Er¬ kenntniß, daß er umsonst gearbeitet, daß Niemand nach ihm das Reich halten könne, aber nicht die Erinnerung an den Tod des Symmachus und Boethius Peinigt ihn, wie die Ueberlieferung meldet — „sie waren Verräther" — sondern die Ermordung seines germanischen Gegners Odoaker; für diese That, fürchtet er. werde das göttliche Strafgericht sein ganzes Volk treffen. Breiter entfaltet sich die Darstellung seiner Tochter und Nachfolgerin Amalaswintha. Sie er¬ scheint, wie sie war, verwälscht, dem eignen Volke abgewendet und den Ro¬ manen hingegeben; so wird sie zum Verbrechen — der Ermordung ihrer gothischen Hauptgegner — angetrieben, das ihr die letzte Zuneigung des eignen Volkes raubt und doch die Römer nicht gewinnt, schließlich von den Gothen entsetzt, von ihrer Feindin Gothelindis, der Gemahlin Theodahads, of Verderben gelockt, aber zur Erkenntniß ihres Frevels gekommen, warnt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/127>, abgerufen am 09.06.2024.