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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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so unbeweglich in seinen Panzer geschnallt, daß ihm sein Knecht die Mahlzeit
in den Mund stecken muß. Als er nun eben einmal gefüttert werden soll,
erlauert ihn Jsaak, der Schütze, und während der Knecht jenem die Gabel
zum Munde führt, kommt der Pfeil des Gegners gepflogen, trifft die Gabel
und treibt sie dem Russen in den Hals.

Eine halbe Stunde oberhalb Altorf im Canton Uri, am Eingange des
Schächenthales liegt das uralte, von Urkunden schon um die Mitte des
neunten Jahrhunderts erwähnte Dorf Bürgem. Hier bezeichnet auf einer
anmuthigen Höhe eine kleine mit Scenen aus Teils Leben bemalte Kapelle
die Stelle des Hauses, in welchem dieser Schützenheld gewohnt haben soll.
Nicht weit davon ragt ein epheuumsponnenes Thurmfragment empor, einst, als
das untere Land von Uri noch zum Züricher Frauenmünsterstift gehörte, der
Sitz des herrschaftlichen Hausmeiers. Nach der Pförtnerin aber, die in den letzten
Jahren hier stationirt war, hätte hier Teils Schwiegervater, der edle Ritter
von Attinghausen gewohnt. Dem Fremden kam diese Belehrung seltsam
vor, dem Einheimischen nicht. Auch im urdemokratischen Uri giebt man viel
auf vornehme Herkunft und Verwandtschaft, und so hatten schon die ältesten
Schweizerchroniken sämmtliche beim Rütlibunde Betheiligte zu Adeligen ge¬
macht, und die spätere Zeit hat dies geglaubt. Selbst der vielbelesene Mar¬
schall Fidel von Zurlauben verunstaltete seine Schriften durch grobe Bei¬
spiele solcher dem Emporkömmling anhaftenden Großmannssucht und erfand
für Tell und Melchthal ein adeliges Wappen. Mit derselben thörichten
Denkweise hat man für Längstverstorbene Grabsteine nachgemacht und für
rein mythische Namen Glasgemälde kirchlich nachgestiftet, wie deren eins für
Stauffacher und dessen Frau Herlobig in der Kirche zu Art und ein anderes
für Schrutan Winkelried in der Abtei zu Engelberg zu sehen war. "Man
ist aber bei derlei antiquarischen Spielereien nicht stehen geblieben; denn um
einen unerweislichen Personennamen oder eine vorausgeglaubte Thatsache der
historischen Ungewißheit zu entziehen, hat man sich auf das Gebiet der ge¬
schichtlichen Diplomatik gewagt, Urkunden geschmiedet, historische Inschriften
ersonnen und selbst Kirchenbücher in Namen und Zahlen gefälscht, alles dies
in der gewöhnlichen Meinung, ein spießbürgerlicher Eigendünkel sei schon
Nationalstolz, diesen aber weiter auszubreiten sei ein tugendhafter und patri¬
otischer Zweck, welcher die gewählten Mittel des Betrugs heilige." Fälle der
Art kamen namentlich in Bürglen vor, wo man zum Beweise, daß in
diesem angeblichen Wohnorte Teils wirklich einmal ein Held dieses Namens
gelebt, Documente künstlich schuf und amtlich zur Geltung brachte, so daß
selbst Johannes v. Müller sich imponiren und mit Unterdrückung seines
bessern Wissens zu der Aeußerung verleiten ließ: "Gewiß hat dieser Held im
Jahre i:-w7 gelebt und an den Orten, wo Gott für das Glück seiner Thaten


so unbeweglich in seinen Panzer geschnallt, daß ihm sein Knecht die Mahlzeit
in den Mund stecken muß. Als er nun eben einmal gefüttert werden soll,
erlauert ihn Jsaak, der Schütze, und während der Knecht jenem die Gabel
zum Munde führt, kommt der Pfeil des Gegners gepflogen, trifft die Gabel
und treibt sie dem Russen in den Hals.

Eine halbe Stunde oberhalb Altorf im Canton Uri, am Eingange des
Schächenthales liegt das uralte, von Urkunden schon um die Mitte des
neunten Jahrhunderts erwähnte Dorf Bürgem. Hier bezeichnet auf einer
anmuthigen Höhe eine kleine mit Scenen aus Teils Leben bemalte Kapelle
die Stelle des Hauses, in welchem dieser Schützenheld gewohnt haben soll.
Nicht weit davon ragt ein epheuumsponnenes Thurmfragment empor, einst, als
das untere Land von Uri noch zum Züricher Frauenmünsterstift gehörte, der
Sitz des herrschaftlichen Hausmeiers. Nach der Pförtnerin aber, die in den letzten
Jahren hier stationirt war, hätte hier Teils Schwiegervater, der edle Ritter
von Attinghausen gewohnt. Dem Fremden kam diese Belehrung seltsam
vor, dem Einheimischen nicht. Auch im urdemokratischen Uri giebt man viel
auf vornehme Herkunft und Verwandtschaft, und so hatten schon die ältesten
Schweizerchroniken sämmtliche beim Rütlibunde Betheiligte zu Adeligen ge¬
macht, und die spätere Zeit hat dies geglaubt. Selbst der vielbelesene Mar¬
schall Fidel von Zurlauben verunstaltete seine Schriften durch grobe Bei¬
spiele solcher dem Emporkömmling anhaftenden Großmannssucht und erfand
für Tell und Melchthal ein adeliges Wappen. Mit derselben thörichten
Denkweise hat man für Längstverstorbene Grabsteine nachgemacht und für
rein mythische Namen Glasgemälde kirchlich nachgestiftet, wie deren eins für
Stauffacher und dessen Frau Herlobig in der Kirche zu Art und ein anderes
für Schrutan Winkelried in der Abtei zu Engelberg zu sehen war. „Man
ist aber bei derlei antiquarischen Spielereien nicht stehen geblieben; denn um
einen unerweislichen Personennamen oder eine vorausgeglaubte Thatsache der
historischen Ungewißheit zu entziehen, hat man sich auf das Gebiet der ge¬
schichtlichen Diplomatik gewagt, Urkunden geschmiedet, historische Inschriften
ersonnen und selbst Kirchenbücher in Namen und Zahlen gefälscht, alles dies
in der gewöhnlichen Meinung, ein spießbürgerlicher Eigendünkel sei schon
Nationalstolz, diesen aber weiter auszubreiten sei ein tugendhafter und patri¬
otischer Zweck, welcher die gewählten Mittel des Betrugs heilige." Fälle der
Art kamen namentlich in Bürglen vor, wo man zum Beweise, daß in
diesem angeblichen Wohnorte Teils wirklich einmal ein Held dieses Namens
gelebt, Documente künstlich schuf und amtlich zur Geltung brachte, so daß
selbst Johannes v. Müller sich imponiren und mit Unterdrückung seines
bessern Wissens zu der Aeußerung verleiten ließ: „Gewiß hat dieser Held im
Jahre i:-w7 gelebt und an den Orten, wo Gott für das Glück seiner Thaten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/140>, abgerufen am 29.05.2024.