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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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der Tell betreffenden Literatur, hat in der 1834 in seiner Vaterstadt abge¬
haltenen Versammlung des Fünfortischen Geschichtsvereins zugestanden, daß
man in den Kirchengemeinde-Registern der ganzen Thalschaft dem Namen
Tell nirgends begegne; er habe sich von den stattgehabten Unterschiebungen
des Namens Tell an Stelle des Namens Näki im Attinghausener Kirchen¬
buche durch eigne Besichtigung desselben überzeugt.

Das Weiße Buch läßt den vom Landvögte Geßler verhörten Tell zur
Entschuldigung seines Ungehorsams sagen, wenn er witzig wäre, so hieße er
nicht der Tell, mit andern Worten, wäre er bei Verstände, so würde man
ihn nicht den Tell nennen. Die späteren Chronisten Etterlin und Tschudi
schrieben dieses Wort unverändert nach, und das Urner Tellenspiel, welches
unter obrigkeitlicher Protection auf dem Alrorfer Marktplatze aufgeführt
wurde, drückt diesen Mangel an Verstand bei dem Nationalhelden deutlich
aus. Schiller, der an der Albernheit des Heros künstlerischen Anstand nehmen
mußte, läßt den Befragten antworten: "Wär' ich besonnen, hieß' ich nicht
der Tell." Einen ähnlichen Ausweg hatte bereits Spreng versucht, indem
er gesagt, Tell habe gegen den ihn ausfragenden Landvogt Verrücktheit vor¬
geschützt und sei eben wegen dieser frechen Verstellung verurtheilt worden, auf
das eigne Kind zu schießen. Takt oder Telle, von talem, einfältig oder kindisch
thun abzuleiten, bedeute einen Narren. Habe doch auch Odysseus, um nicht
mit nach Troja ziehen zu müssen, sich wahnsinnig gestellt und unter dieser
Maske Roß und Rind zusammen vor den Pflug gespannt, als aber dann
Palamedes ihm seinen Sohn Telemach vor den Pflug gelegt, sei der Vater
gezwungen gewesen, vorsichtig neben dem Kinde vorbeizuackern und so seine
Verstellung selbst zu entdecken. An solche mythische Züge müsse man sich
erinnern, wenn man die Glaubwürdigkeit der Geschichte von Tell deshalb
bestreite, weil der Landvogt unmöglich so unvernünftig gewesen sein könne,
dem Blödsinnigen einen Kindesmord zu gebieten. So weit Spreng. Den
wichtigeren Einwurf, daß Tell dann in blos vorgeschütztem Blödsinn noch un¬
vernünftiger als der Landvogt handelt und den anbefohlnen Schuß wirklich
thut, übergeht er, da es ihm nur um den Beweis zu thun ist, daß der Name
Tell kein Geschlechts-, sondern nur ein Beiname gewesen. Mit dieser Be¬
hauptung stehen wir aber bei jenen verspäteten Namenssagen, die erst dann
auftauchen, wenn der ursprüngliche Sinn eines historischen Namens bereits
erloschen ist.

Richtig ist, daß Tell die Bedeutung Thor, Geistesschwacher, Alberner hat.
Daß solche Prädicate nicht zu einem Nationalhelden, nicht zum Mitbegründer
der Eidgenossenschaft passen, liegt auf der Hand. Die sagenausbildende Ueber¬
lieferung empfand diesen Mangel und half sich einigermaßen damit, daß sie
dem Geistesschwachen gleichsam Vormünder gab, die sogenannten drei Teilen:


der Tell betreffenden Literatur, hat in der 1834 in seiner Vaterstadt abge¬
haltenen Versammlung des Fünfortischen Geschichtsvereins zugestanden, daß
man in den Kirchengemeinde-Registern der ganzen Thalschaft dem Namen
Tell nirgends begegne; er habe sich von den stattgehabten Unterschiebungen
des Namens Tell an Stelle des Namens Näki im Attinghausener Kirchen¬
buche durch eigne Besichtigung desselben überzeugt.

Das Weiße Buch läßt den vom Landvögte Geßler verhörten Tell zur
Entschuldigung seines Ungehorsams sagen, wenn er witzig wäre, so hieße er
nicht der Tell, mit andern Worten, wäre er bei Verstände, so würde man
ihn nicht den Tell nennen. Die späteren Chronisten Etterlin und Tschudi
schrieben dieses Wort unverändert nach, und das Urner Tellenspiel, welches
unter obrigkeitlicher Protection auf dem Alrorfer Marktplatze aufgeführt
wurde, drückt diesen Mangel an Verstand bei dem Nationalhelden deutlich
aus. Schiller, der an der Albernheit des Heros künstlerischen Anstand nehmen
mußte, läßt den Befragten antworten: „Wär' ich besonnen, hieß' ich nicht
der Tell." Einen ähnlichen Ausweg hatte bereits Spreng versucht, indem
er gesagt, Tell habe gegen den ihn ausfragenden Landvogt Verrücktheit vor¬
geschützt und sei eben wegen dieser frechen Verstellung verurtheilt worden, auf
das eigne Kind zu schießen. Takt oder Telle, von talem, einfältig oder kindisch
thun abzuleiten, bedeute einen Narren. Habe doch auch Odysseus, um nicht
mit nach Troja ziehen zu müssen, sich wahnsinnig gestellt und unter dieser
Maske Roß und Rind zusammen vor den Pflug gespannt, als aber dann
Palamedes ihm seinen Sohn Telemach vor den Pflug gelegt, sei der Vater
gezwungen gewesen, vorsichtig neben dem Kinde vorbeizuackern und so seine
Verstellung selbst zu entdecken. An solche mythische Züge müsse man sich
erinnern, wenn man die Glaubwürdigkeit der Geschichte von Tell deshalb
bestreite, weil der Landvogt unmöglich so unvernünftig gewesen sein könne,
dem Blödsinnigen einen Kindesmord zu gebieten. So weit Spreng. Den
wichtigeren Einwurf, daß Tell dann in blos vorgeschütztem Blödsinn noch un¬
vernünftiger als der Landvogt handelt und den anbefohlnen Schuß wirklich
thut, übergeht er, da es ihm nur um den Beweis zu thun ist, daß der Name
Tell kein Geschlechts-, sondern nur ein Beiname gewesen. Mit dieser Be¬
hauptung stehen wir aber bei jenen verspäteten Namenssagen, die erst dann
auftauchen, wenn der ursprüngliche Sinn eines historischen Namens bereits
erloschen ist.

Richtig ist, daß Tell die Bedeutung Thor, Geistesschwacher, Alberner hat.
Daß solche Prädicate nicht zu einem Nationalhelden, nicht zum Mitbegründer
der Eidgenossenschaft passen, liegt auf der Hand. Die sagenausbildende Ueber¬
lieferung empfand diesen Mangel und half sich einigermaßen damit, daß sie
dem Geistesschwachen gleichsam Vormünder gab, die sogenannten drei Teilen:


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[0144] der Tell betreffenden Literatur, hat in der 1834 in seiner Vaterstadt abge¬ haltenen Versammlung des Fünfortischen Geschichtsvereins zugestanden, daß man in den Kirchengemeinde-Registern der ganzen Thalschaft dem Namen Tell nirgends begegne; er habe sich von den stattgehabten Unterschiebungen des Namens Tell an Stelle des Namens Näki im Attinghausener Kirchen¬ buche durch eigne Besichtigung desselben überzeugt. Das Weiße Buch läßt den vom Landvögte Geßler verhörten Tell zur Entschuldigung seines Ungehorsams sagen, wenn er witzig wäre, so hieße er nicht der Tell, mit andern Worten, wäre er bei Verstände, so würde man ihn nicht den Tell nennen. Die späteren Chronisten Etterlin und Tschudi schrieben dieses Wort unverändert nach, und das Urner Tellenspiel, welches unter obrigkeitlicher Protection auf dem Alrorfer Marktplatze aufgeführt wurde, drückt diesen Mangel an Verstand bei dem Nationalhelden deutlich aus. Schiller, der an der Albernheit des Heros künstlerischen Anstand nehmen mußte, läßt den Befragten antworten: „Wär' ich besonnen, hieß' ich nicht der Tell." Einen ähnlichen Ausweg hatte bereits Spreng versucht, indem er gesagt, Tell habe gegen den ihn ausfragenden Landvogt Verrücktheit vor¬ geschützt und sei eben wegen dieser frechen Verstellung verurtheilt worden, auf das eigne Kind zu schießen. Takt oder Telle, von talem, einfältig oder kindisch thun abzuleiten, bedeute einen Narren. Habe doch auch Odysseus, um nicht mit nach Troja ziehen zu müssen, sich wahnsinnig gestellt und unter dieser Maske Roß und Rind zusammen vor den Pflug gespannt, als aber dann Palamedes ihm seinen Sohn Telemach vor den Pflug gelegt, sei der Vater gezwungen gewesen, vorsichtig neben dem Kinde vorbeizuackern und so seine Verstellung selbst zu entdecken. An solche mythische Züge müsse man sich erinnern, wenn man die Glaubwürdigkeit der Geschichte von Tell deshalb bestreite, weil der Landvogt unmöglich so unvernünftig gewesen sein könne, dem Blödsinnigen einen Kindesmord zu gebieten. So weit Spreng. Den wichtigeren Einwurf, daß Tell dann in blos vorgeschütztem Blödsinn noch un¬ vernünftiger als der Landvogt handelt und den anbefohlnen Schuß wirklich thut, übergeht er, da es ihm nur um den Beweis zu thun ist, daß der Name Tell kein Geschlechts-, sondern nur ein Beiname gewesen. Mit dieser Be¬ hauptung stehen wir aber bei jenen verspäteten Namenssagen, die erst dann auftauchen, wenn der ursprüngliche Sinn eines historischen Namens bereits erloschen ist. Richtig ist, daß Tell die Bedeutung Thor, Geistesschwacher, Alberner hat. Daß solche Prädicate nicht zu einem Nationalhelden, nicht zum Mitbegründer der Eidgenossenschaft passen, liegt auf der Hand. Die sagenausbildende Ueber¬ lieferung empfand diesen Mangel und half sich einigermaßen damit, daß sie dem Geistesschwachen gleichsam Vormünder gab, die sogenannten drei Teilen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/144>, abgerufen am 31.05.2024.