Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

andere Völker mußten sich die Fremdherrschaft gefallen lassen. Aber vielleicht
nirgendwo fügte man sich so willig, als in Holland, und als endlich das
übrige ganze Europa gegen Napoleon in die Waffen trat, als die siegenden
Verbündeten auch zur Befreiung der Niederlande heranrückten, da hatten die
Holländer nicht den Muth, selbst zur Befreiung der Fremdherrschaft mitzu¬
wirken. Als die Franzosen abgezogen waren, wollten sie das Land im
Namen Napoleons weiter verwalten, da sie sich vor einer möglichen Rückkehr
des Kaisers fürchteten. Nur einem halben Dutzend Männern gelang es mit
vieler Mühe, eine Bewegung zu Gunsten des Prinzen von Oranien hervor zu
bringen, diesen aus England zu berufen und zum souveränen Fürsten zu proclamiren.

Die Vereinigung Hollands mit Belgien, deren Lösung Thorbecke noch
im Jahre 1830 widerstrebte, wurde später von ihm als ein Fehler betrachtet.
Es ist eigenthümlich, wie geschickt der Prinz von Oranien und seine Rath¬
geber die Früchte der Siege der Verbündeten zu ernten wußten, ohne daß
sie sich zur Erlangung derselben die geringste Mühe gaben. Aber Wilhelm I.
war ein schlauer Kopf, der die Gelegenheit zu benutzen wußte und sich zu¬
eignete, was er eben greifen konnte, ohne in den Mitteln sehr wählerisch zu
sein. Als er bei seiner Ankunft in Holland im November 1813 sah, daß
man rathlos war, welche Form man dem wieder selbständig gewordenen
Lande geben wollte, nahm er gleich den Titel eines souveränen Fürsten und
bald darauf den eines Königs an. Er gab dem Lande eine Verfassung --
1814 eine für Holland und 1813 eine für die Vereinigten Niederlande --
und erklärte sie trotz des allgemeinen Widerstandes der Belgier für gültig.
Hätte er nach dieser Verfassung regiert, dann hätte er vielleicht die Abneigung
der Belgier überwunden, aber er verletzte immer wieder diese Constitution.
In Holland war das politische Leben erstorben und König Wilhelm hütete
sich, es wieder zu erwecken, denn er wollte allein regieren. Im Norden des
Landes fügte man sich willig dem autokratischen Regiments, aber im Süden
wuchs der Widerstand, bis er in die offene Revolution ausbrach.

Thorbecke sagt über diese Zeit: "Nicht Theilnahme, sondern Enthaltung
schien Bürgerpflicht zu sein. Die Wiederherstellung unserer Unabhängigkeit,
ohne viel Streit oder Mühe erlangt, die Rückkehr eines nationalen, popu¬
lären Oberhauptes, waren ein so großer überströmender Segen, daß Niemand
daran dachte, über die Art der Regierung zu unterhandeln mit einer Macht,
von der man sich nur Wohlthaten und Hebung des allgemeinen Wohlstandes
versprach." Das Volk und das Bürgerthum, welche auch in den Zeiten der
Republik keinen Einfluß auf die Regierung gehabt hatten, dachten auch jetzt
nicht daran, ihn zu erlangen. Die Negierungsfamilien suchte der König durch
Verleihung alter, unter der französischen Herrschaft vernichteter Vorrechte an sich
zu fesseln. "Anstatt der Tüchtigkeit und Charakterstärke drängten sich Tradition


andere Völker mußten sich die Fremdherrschaft gefallen lassen. Aber vielleicht
nirgendwo fügte man sich so willig, als in Holland, und als endlich das
übrige ganze Europa gegen Napoleon in die Waffen trat, als die siegenden
Verbündeten auch zur Befreiung der Niederlande heranrückten, da hatten die
Holländer nicht den Muth, selbst zur Befreiung der Fremdherrschaft mitzu¬
wirken. Als die Franzosen abgezogen waren, wollten sie das Land im
Namen Napoleons weiter verwalten, da sie sich vor einer möglichen Rückkehr
des Kaisers fürchteten. Nur einem halben Dutzend Männern gelang es mit
vieler Mühe, eine Bewegung zu Gunsten des Prinzen von Oranien hervor zu
bringen, diesen aus England zu berufen und zum souveränen Fürsten zu proclamiren.

Die Vereinigung Hollands mit Belgien, deren Lösung Thorbecke noch
im Jahre 1830 widerstrebte, wurde später von ihm als ein Fehler betrachtet.
Es ist eigenthümlich, wie geschickt der Prinz von Oranien und seine Rath¬
geber die Früchte der Siege der Verbündeten zu ernten wußten, ohne daß
sie sich zur Erlangung derselben die geringste Mühe gaben. Aber Wilhelm I.
war ein schlauer Kopf, der die Gelegenheit zu benutzen wußte und sich zu¬
eignete, was er eben greifen konnte, ohne in den Mitteln sehr wählerisch zu
sein. Als er bei seiner Ankunft in Holland im November 1813 sah, daß
man rathlos war, welche Form man dem wieder selbständig gewordenen
Lande geben wollte, nahm er gleich den Titel eines souveränen Fürsten und
bald darauf den eines Königs an. Er gab dem Lande eine Verfassung —
1814 eine für Holland und 1813 eine für die Vereinigten Niederlande —
und erklärte sie trotz des allgemeinen Widerstandes der Belgier für gültig.
Hätte er nach dieser Verfassung regiert, dann hätte er vielleicht die Abneigung
der Belgier überwunden, aber er verletzte immer wieder diese Constitution.
In Holland war das politische Leben erstorben und König Wilhelm hütete
sich, es wieder zu erwecken, denn er wollte allein regieren. Im Norden des
Landes fügte man sich willig dem autokratischen Regiments, aber im Süden
wuchs der Widerstand, bis er in die offene Revolution ausbrach.

Thorbecke sagt über diese Zeit: „Nicht Theilnahme, sondern Enthaltung
schien Bürgerpflicht zu sein. Die Wiederherstellung unserer Unabhängigkeit,
ohne viel Streit oder Mühe erlangt, die Rückkehr eines nationalen, popu¬
lären Oberhauptes, waren ein so großer überströmender Segen, daß Niemand
daran dachte, über die Art der Regierung zu unterhandeln mit einer Macht,
von der man sich nur Wohlthaten und Hebung des allgemeinen Wohlstandes
versprach." Das Volk und das Bürgerthum, welche auch in den Zeiten der
Republik keinen Einfluß auf die Regierung gehabt hatten, dachten auch jetzt
nicht daran, ihn zu erlangen. Die Negierungsfamilien suchte der König durch
Verleihung alter, unter der französischen Herrschaft vernichteter Vorrechte an sich
zu fesseln. „Anstatt der Tüchtigkeit und Charakterstärke drängten sich Tradition


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0171" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136810"/>
          <p xml:id="ID_450" prev="#ID_449"> andere Völker mußten sich die Fremdherrschaft gefallen lassen. Aber vielleicht<lb/>
nirgendwo fügte man sich so willig, als in Holland, und als endlich das<lb/>
übrige ganze Europa gegen Napoleon in die Waffen trat, als die siegenden<lb/>
Verbündeten auch zur Befreiung der Niederlande heranrückten, da hatten die<lb/>
Holländer nicht den Muth, selbst zur Befreiung der Fremdherrschaft mitzu¬<lb/>
wirken. Als die Franzosen abgezogen waren, wollten sie das Land im<lb/>
Namen Napoleons weiter verwalten, da sie sich vor einer möglichen Rückkehr<lb/>
des Kaisers fürchteten. Nur einem halben Dutzend Männern gelang es mit<lb/>
vieler Mühe, eine Bewegung zu Gunsten des Prinzen von Oranien hervor zu<lb/>
bringen, diesen aus England zu berufen und zum souveränen Fürsten zu proclamiren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_451"> Die Vereinigung Hollands mit Belgien, deren Lösung Thorbecke noch<lb/>
im Jahre 1830 widerstrebte, wurde später von ihm als ein Fehler betrachtet.<lb/>
Es ist eigenthümlich, wie geschickt der Prinz von Oranien und seine Rath¬<lb/>
geber die Früchte der Siege der Verbündeten zu ernten wußten, ohne daß<lb/>
sie sich zur Erlangung derselben die geringste Mühe gaben. Aber Wilhelm I.<lb/>
war ein schlauer Kopf, der die Gelegenheit zu benutzen wußte und sich zu¬<lb/>
eignete, was er eben greifen konnte, ohne in den Mitteln sehr wählerisch zu<lb/>
sein. Als er bei seiner Ankunft in Holland im November 1813 sah, daß<lb/>
man rathlos war, welche Form man dem wieder selbständig gewordenen<lb/>
Lande geben wollte, nahm er gleich den Titel eines souveränen Fürsten und<lb/>
bald darauf den eines Königs an. Er gab dem Lande eine Verfassung &#x2014;<lb/>
1814 eine für Holland und 1813 eine für die Vereinigten Niederlande &#x2014;<lb/>
und erklärte sie trotz des allgemeinen Widerstandes der Belgier für gültig.<lb/>
Hätte er nach dieser Verfassung regiert, dann hätte er vielleicht die Abneigung<lb/>
der Belgier überwunden, aber er verletzte immer wieder diese Constitution.<lb/>
In Holland war das politische Leben erstorben und König Wilhelm hütete<lb/>
sich, es wieder zu erwecken, denn er wollte allein regieren. Im Norden des<lb/>
Landes fügte man sich willig dem autokratischen Regiments, aber im Süden<lb/>
wuchs der Widerstand, bis er in die offene Revolution ausbrach.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_452" next="#ID_453"> Thorbecke sagt über diese Zeit: &#x201E;Nicht Theilnahme, sondern Enthaltung<lb/>
schien Bürgerpflicht zu sein. Die Wiederherstellung unserer Unabhängigkeit,<lb/>
ohne viel Streit oder Mühe erlangt, die Rückkehr eines nationalen, popu¬<lb/>
lären Oberhauptes, waren ein so großer überströmender Segen, daß Niemand<lb/>
daran dachte, über die Art der Regierung zu unterhandeln mit einer Macht,<lb/>
von der man sich nur Wohlthaten und Hebung des allgemeinen Wohlstandes<lb/>
versprach." Das Volk und das Bürgerthum, welche auch in den Zeiten der<lb/>
Republik keinen Einfluß auf die Regierung gehabt hatten, dachten auch jetzt<lb/>
nicht daran, ihn zu erlangen. Die Negierungsfamilien suchte der König durch<lb/>
Verleihung alter, unter der französischen Herrschaft vernichteter Vorrechte an sich<lb/>
zu fesseln. &#x201E;Anstatt der Tüchtigkeit und Charakterstärke drängten sich Tradition</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0171] andere Völker mußten sich die Fremdherrschaft gefallen lassen. Aber vielleicht nirgendwo fügte man sich so willig, als in Holland, und als endlich das übrige ganze Europa gegen Napoleon in die Waffen trat, als die siegenden Verbündeten auch zur Befreiung der Niederlande heranrückten, da hatten die Holländer nicht den Muth, selbst zur Befreiung der Fremdherrschaft mitzu¬ wirken. Als die Franzosen abgezogen waren, wollten sie das Land im Namen Napoleons weiter verwalten, da sie sich vor einer möglichen Rückkehr des Kaisers fürchteten. Nur einem halben Dutzend Männern gelang es mit vieler Mühe, eine Bewegung zu Gunsten des Prinzen von Oranien hervor zu bringen, diesen aus England zu berufen und zum souveränen Fürsten zu proclamiren. Die Vereinigung Hollands mit Belgien, deren Lösung Thorbecke noch im Jahre 1830 widerstrebte, wurde später von ihm als ein Fehler betrachtet. Es ist eigenthümlich, wie geschickt der Prinz von Oranien und seine Rath¬ geber die Früchte der Siege der Verbündeten zu ernten wußten, ohne daß sie sich zur Erlangung derselben die geringste Mühe gaben. Aber Wilhelm I. war ein schlauer Kopf, der die Gelegenheit zu benutzen wußte und sich zu¬ eignete, was er eben greifen konnte, ohne in den Mitteln sehr wählerisch zu sein. Als er bei seiner Ankunft in Holland im November 1813 sah, daß man rathlos war, welche Form man dem wieder selbständig gewordenen Lande geben wollte, nahm er gleich den Titel eines souveränen Fürsten und bald darauf den eines Königs an. Er gab dem Lande eine Verfassung — 1814 eine für Holland und 1813 eine für die Vereinigten Niederlande — und erklärte sie trotz des allgemeinen Widerstandes der Belgier für gültig. Hätte er nach dieser Verfassung regiert, dann hätte er vielleicht die Abneigung der Belgier überwunden, aber er verletzte immer wieder diese Constitution. In Holland war das politische Leben erstorben und König Wilhelm hütete sich, es wieder zu erwecken, denn er wollte allein regieren. Im Norden des Landes fügte man sich willig dem autokratischen Regiments, aber im Süden wuchs der Widerstand, bis er in die offene Revolution ausbrach. Thorbecke sagt über diese Zeit: „Nicht Theilnahme, sondern Enthaltung schien Bürgerpflicht zu sein. Die Wiederherstellung unserer Unabhängigkeit, ohne viel Streit oder Mühe erlangt, die Rückkehr eines nationalen, popu¬ lären Oberhauptes, waren ein so großer überströmender Segen, daß Niemand daran dachte, über die Art der Regierung zu unterhandeln mit einer Macht, von der man sich nur Wohlthaten und Hebung des allgemeinen Wohlstandes versprach." Das Volk und das Bürgerthum, welche auch in den Zeiten der Republik keinen Einfluß auf die Regierung gehabt hatten, dachten auch jetzt nicht daran, ihn zu erlangen. Die Negierungsfamilien suchte der König durch Verleihung alter, unter der französischen Herrschaft vernichteter Vorrechte an sich zu fesseln. „Anstatt der Tüchtigkeit und Charakterstärke drängten sich Tradition

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/171
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/171>, abgerufen am 05.06.2024.