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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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und Selbstsucht in den Vordergrund." "Man schlug das goldene Buch der
Republik wieder auf, um darin Ansprüche zu suchen zur Erlangung von Vor¬
rechten und Vorrang, wobei das Wohl Aller demjenigen Weniger weichen
mußte." "Wir waren, wie ein großer Theil des westlichen Europas, in einen
andern, bisher durch Fremdherrschaft gestörten Lebenskreis getreten, dessen
Rechte und Pflichten wir kennen lernen mußten. War die Zeit dazu
noch nicht gekommen? Wenn in andern Ländern und in Frankreich
selbst, gleich nach dem Ende der Napoleonischen Tyrannei, sich ein
starker Drang nach materiellem und sittlichem Fortschritt offenbarte, was durfte
man sich nicht für Niederland versprechen? Kein Land stand in einer so
hohen allgemeinen Gunst; wir schienen bei der glücklichsten Vereinigung aller
Bedingungen von Recht, Ordnung und Wohlfahrt, dazu bestimmt ein Modell¬
staat zu werden. Man erinnerte sich unserer großen Männer; des Lichtes,
welches hier schien, als es anderswo noch dunkel war; des Schutzes, dessen
man hier stets theilhaftig wurde; des niederländischen Unternehmungsgeistes
unseres Einflusses zu Land und auf allen Meeren. Wenn dieses kleine Volk,
trotz seines oltgarchischen und kirchlichen Zwiespaltes, früher Größeres als
manche große Monarchie geleistet hatte, was durfte man nun nicht auf der
großen Bahn der konstitutionellen Freiheit von ihm erwarten? Wirklich sah
Jeder bei der Wiedergeburt unserer Unabhängigkeit das Erwachen und die
Stärkung einer lang zurückgedrängten Kraft. Das Gegentheil fand statt.
Wir waren so lange unthätig gewesen und blieben es."

Die Erkenntniß, daß sein Vaterland, das einst eine so bedeutende und
ruhmvolle Rolle in der Geschichte gespielt hatte, das geistig und materiell
andern Ländern voraus gewesen war, jetzt einem allgemeinen Verfall preis¬
gegeben war und sich daraus nicht erheben konnte: diese Erkenntniß hatte
Thorbecke in den dreißiger Jahren dazu gebracht, historisch die Ursachen dieses
Rückschrittes zu untersuchen, und wir sehen, wie er ohne Zaudern die Mängel
des niederländischen Staats- und Volkslebens aufdeckt. Er hielt seiner Nation
rücksichtslos ein Spiegelbild ihrer Sünden vor und zeigte ihr, wie sie sich
wieder zu Besserem erheben könne. Der Ursprung der Freiheit der Nieder¬
lande, die Union von Utrecht, hätte, nachdem der Staat sich gebildet hatte,
nach den veränderten Umständen auch verändert werden müssen. Verschiedene
Male hat man Versuche dazu gemacht, die aber jedesmal an dem Eigennutz
der Einzelnen gescheitert sind. Das allgemeine Wohl wurde bei Seite ge¬
schoben und die Selbstsucht regierte. Das mußte anders werden. Der Ein¬
zelne war doch nur ein Theil des ganzen Volkes und das Volk ein Theil
der Menschheit. Der Erfüllung der Pflichten, welche Jeder dem Allgemeinen
gegenüber hatte, mußte man sich wieder unterziehen, und der Staat, als
Ausdruck des Willens Aller, stand über den einzelnen Theilen. Durch An-


und Selbstsucht in den Vordergrund." „Man schlug das goldene Buch der
Republik wieder auf, um darin Ansprüche zu suchen zur Erlangung von Vor¬
rechten und Vorrang, wobei das Wohl Aller demjenigen Weniger weichen
mußte." „Wir waren, wie ein großer Theil des westlichen Europas, in einen
andern, bisher durch Fremdherrschaft gestörten Lebenskreis getreten, dessen
Rechte und Pflichten wir kennen lernen mußten. War die Zeit dazu
noch nicht gekommen? Wenn in andern Ländern und in Frankreich
selbst, gleich nach dem Ende der Napoleonischen Tyrannei, sich ein
starker Drang nach materiellem und sittlichem Fortschritt offenbarte, was durfte
man sich nicht für Niederland versprechen? Kein Land stand in einer so
hohen allgemeinen Gunst; wir schienen bei der glücklichsten Vereinigung aller
Bedingungen von Recht, Ordnung und Wohlfahrt, dazu bestimmt ein Modell¬
staat zu werden. Man erinnerte sich unserer großen Männer; des Lichtes,
welches hier schien, als es anderswo noch dunkel war; des Schutzes, dessen
man hier stets theilhaftig wurde; des niederländischen Unternehmungsgeistes
unseres Einflusses zu Land und auf allen Meeren. Wenn dieses kleine Volk,
trotz seines oltgarchischen und kirchlichen Zwiespaltes, früher Größeres als
manche große Monarchie geleistet hatte, was durfte man nun nicht auf der
großen Bahn der konstitutionellen Freiheit von ihm erwarten? Wirklich sah
Jeder bei der Wiedergeburt unserer Unabhängigkeit das Erwachen und die
Stärkung einer lang zurückgedrängten Kraft. Das Gegentheil fand statt.
Wir waren so lange unthätig gewesen und blieben es."

Die Erkenntniß, daß sein Vaterland, das einst eine so bedeutende und
ruhmvolle Rolle in der Geschichte gespielt hatte, das geistig und materiell
andern Ländern voraus gewesen war, jetzt einem allgemeinen Verfall preis¬
gegeben war und sich daraus nicht erheben konnte: diese Erkenntniß hatte
Thorbecke in den dreißiger Jahren dazu gebracht, historisch die Ursachen dieses
Rückschrittes zu untersuchen, und wir sehen, wie er ohne Zaudern die Mängel
des niederländischen Staats- und Volkslebens aufdeckt. Er hielt seiner Nation
rücksichtslos ein Spiegelbild ihrer Sünden vor und zeigte ihr, wie sie sich
wieder zu Besserem erheben könne. Der Ursprung der Freiheit der Nieder¬
lande, die Union von Utrecht, hätte, nachdem der Staat sich gebildet hatte,
nach den veränderten Umständen auch verändert werden müssen. Verschiedene
Male hat man Versuche dazu gemacht, die aber jedesmal an dem Eigennutz
der Einzelnen gescheitert sind. Das allgemeine Wohl wurde bei Seite ge¬
schoben und die Selbstsucht regierte. Das mußte anders werden. Der Ein¬
zelne war doch nur ein Theil des ganzen Volkes und das Volk ein Theil
der Menschheit. Der Erfüllung der Pflichten, welche Jeder dem Allgemeinen
gegenüber hatte, mußte man sich wieder unterziehen, und der Staat, als
Ausdruck des Willens Aller, stand über den einzelnen Theilen. Durch An-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/172>, abgerufen am 05.06.2024.