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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Zeit wird durch neuentstehende allgemeine Kräfte in Wissenschaft, Kunst und
Industrie sowohl, wie in Staatenbildung beherrscht. Uns in solcher Zeit
Absonderung vorzuschreiben, hieße unser Todesurtheil aussprechen."

Die Folge dieses Vorgehens war für Thorbecke, daß er nicht wieder in
die Kammer gewählt wurde. Man sah die Nothwendigkeit zur Veränderung
der Staatsverfassung noch lange nicht allgemein ein. und es bedürfte erst der
Einwirkung von Außen, um diese zu Stande zu bringen.

Diese Einwirkung brachten die immer höher gehenden Wogen der poli¬
tischen Erregung im übrigen Europa, und in der Thronrede bei Eröffnung
der Kammern, Oct. 1847. erkennt selbst der König Wilhelm II. die Noth,
wendtgkeit einer Aenderung der Constitution, an. Eine dazu am 8. März des
folgenden Jahres gemachte Regierungsvorlage entsprach indessen so wenig den
eingetretenen Ereignissen und der in Folge derselben veränderten Meinung
in den Niederlanden, daß der König schon nach acht Tagen zu weiteren Con¬
cessionen sich entschloß. Nun wurde von den Kennern eine ganz im Geiste
Thorbecke's gehaltene Verfassung berathschlagt und angenommen. Der Ein¬
fluß der Gegner Thorbecke's, die ihn überall zu verleumden suchten, war
indessen noch stark genug, ihn von der Regierung selbst fern zu halten, und
erst im Herbste 1849 sah der König keinen andern Ausweg, als den ihm als
seinen Feind geschilderten Mann zum Minister zu berufen.

Zur Kennzeichnung des Verlaufs und der leitenden Ursachen dieser
Staatsreform ist eine Aeußerung Thorbecke's sehr treffend: "Wenn wir sagen
(nämlich in der Antwort auf die Thronrede Febr. 1849): "Als Euer Majestät
königliches Wort die Reform beschloß", dann zielt dieses augenscheinlich auf
den Anfang, auf den ersten Stoß, dessen erstes Ergebniß das veränderte
Grundgesetz gewesen ist. Dieser Ausdruck sagt durchaus nicht, daß der König
allein, unter Beseitigung der gesetzlichen Mitwirkung und Formen, das Grund¬
gesetz verändert hat und Niederland eine neue Constitution gegeben. Der
Vorredner legt ein besonders Gewicht darauf, daß die Reform bei uns zu
Stande gebracht wurde, ohne daß ein Fuß auf revolutionäres Gebiet gesetzt
wurde. Ich bekenne, daß ich das Wort Revolution, Umwälzung, nicht in
dem beschränkten Sinn des geachteten Redners auffaßte. Revolution ist Ver¬
änderung von Grundsätzen, die mit oder ohne Verletzung der gesetzlichen
Formen stattfinden kann. Was ist nun bei uns geschehen? Hat nicht der König
im Monat März des vorigen Jahres die Initiative ergriffen. Hat nicht das
königliche Wort beschlossen, daß die Reform wirklich begonnen wurde? Ich
meinestheils wage nicht zu versichern, daß ohne dieses Wort die Veränderung
des Grundgesetzes, welche ein neues Grundgesetz geschaffen hat, durch die
vorige Kammer zu Stande gebracht worden sei." Aus diesen Worten geht her¬
vor, daß die Constitution nicht in Folge eines allgemein stark und tief gefühlten


Zeit wird durch neuentstehende allgemeine Kräfte in Wissenschaft, Kunst und
Industrie sowohl, wie in Staatenbildung beherrscht. Uns in solcher Zeit
Absonderung vorzuschreiben, hieße unser Todesurtheil aussprechen."

Die Folge dieses Vorgehens war für Thorbecke, daß er nicht wieder in
die Kammer gewählt wurde. Man sah die Nothwendigkeit zur Veränderung
der Staatsverfassung noch lange nicht allgemein ein. und es bedürfte erst der
Einwirkung von Außen, um diese zu Stande zu bringen.

Diese Einwirkung brachten die immer höher gehenden Wogen der poli¬
tischen Erregung im übrigen Europa, und in der Thronrede bei Eröffnung
der Kammern, Oct. 1847. erkennt selbst der König Wilhelm II. die Noth,
wendtgkeit einer Aenderung der Constitution, an. Eine dazu am 8. März des
folgenden Jahres gemachte Regierungsvorlage entsprach indessen so wenig den
eingetretenen Ereignissen und der in Folge derselben veränderten Meinung
in den Niederlanden, daß der König schon nach acht Tagen zu weiteren Con¬
cessionen sich entschloß. Nun wurde von den Kennern eine ganz im Geiste
Thorbecke's gehaltene Verfassung berathschlagt und angenommen. Der Ein¬
fluß der Gegner Thorbecke's, die ihn überall zu verleumden suchten, war
indessen noch stark genug, ihn von der Regierung selbst fern zu halten, und
erst im Herbste 1849 sah der König keinen andern Ausweg, als den ihm als
seinen Feind geschilderten Mann zum Minister zu berufen.

Zur Kennzeichnung des Verlaufs und der leitenden Ursachen dieser
Staatsreform ist eine Aeußerung Thorbecke's sehr treffend: „Wenn wir sagen
(nämlich in der Antwort auf die Thronrede Febr. 1849): „Als Euer Majestät
königliches Wort die Reform beschloß", dann zielt dieses augenscheinlich auf
den Anfang, auf den ersten Stoß, dessen erstes Ergebniß das veränderte
Grundgesetz gewesen ist. Dieser Ausdruck sagt durchaus nicht, daß der König
allein, unter Beseitigung der gesetzlichen Mitwirkung und Formen, das Grund¬
gesetz verändert hat und Niederland eine neue Constitution gegeben. Der
Vorredner legt ein besonders Gewicht darauf, daß die Reform bei uns zu
Stande gebracht wurde, ohne daß ein Fuß auf revolutionäres Gebiet gesetzt
wurde. Ich bekenne, daß ich das Wort Revolution, Umwälzung, nicht in
dem beschränkten Sinn des geachteten Redners auffaßte. Revolution ist Ver¬
änderung von Grundsätzen, die mit oder ohne Verletzung der gesetzlichen
Formen stattfinden kann. Was ist nun bei uns geschehen? Hat nicht der König
im Monat März des vorigen Jahres die Initiative ergriffen. Hat nicht das
königliche Wort beschlossen, daß die Reform wirklich begonnen wurde? Ich
meinestheils wage nicht zu versichern, daß ohne dieses Wort die Veränderung
des Grundgesetzes, welche ein neues Grundgesetz geschaffen hat, durch die
vorige Kammer zu Stande gebracht worden sei." Aus diesen Worten geht her¬
vor, daß die Constitution nicht in Folge eines allgemein stark und tief gefühlten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/174>, abgerufen am 05.06.2024.