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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Bedürfnisses entstanden ist, sondern die Maßregel eines verständigen Fürsten
war, der, die Zeichen der Zeit wohl beobachtend, freiwillig dasjenige gab, was
man vielleicht später von ihm gefordert hätte.

Thorbecke blieb bis zum April 1853 Minister des Innern und Leiter
der Regierung. Diese Zeit ist seine Glanzperiode, da sein Einfluß von da
ab nach und nach sinkt. Nachdem die neue Constitution geschaffen war
und man daran ging den ganzen Staatsorganismus zu erneuern, wagten
steh wieder die Parteileidenschaften und der Eigennutz des Einzelnen hervor.
Die kirchlichen Parteien brachten das erste Ministerium Thorbecke's zum
Sturz, Bei der ausgesprochenen Trennung zwischen Kirche und Staat, be¬
eilte sich die römische Curie die Hierarchie in die ihr verliehene vollkommene
Freiheit wieder einzuführen. Der Papst überhäufte die neue Constitution,
obgleich sie der katholischen Kirche jede Freiheit ließ, mit heftigen Schmähungen.
Das erweckte den Argwohn und den Zorn der Calvinisten, die das Land
von den päpstlichen Anmaßungen bedroht sahen. Eine allgemeine Agitation
erfolgte, und der König sah sich genöthigt, den Calvinisten beruhigende Zu-
sicherungen zu geben. Thorbecke, über diesen Schritt des Königs unzufrieden
nahm seine Entlassung.

Im Jahre 1849 glaubte Thorbecke noch, die Partetungen im Lande
hätten aufgehört. In dieser Täuschung konnte er aber nicht lange bleiben.
Der Gedanke, daß in einer Volksvertretung sich nicht Parteien bilden sollten,
daß eine konstitutionelle Regierung schließlich nicht eine Parteiregierung sein
würde, wenn nicht ganz besonders hervorragende Männer an der Spitze der
Regierung stehen, oder die Constitution nicht ein Uebergewicht der Regierung
über die Volksvertretung begründet, -- ein solcher Gedanke erscheint sonderbar.
Aber Thorbecke's Ansichten sind hin und wieder gar zu idealistisch, und die
Thatsachen werden ihn manchmal gründlich enttäuscht haben. Wurde er selbst
doch, der das Bestehen von Parteien in der Kammer und dem Lande leugnete,
allgemein als der Führer der liberalen Partei anerkannt, und wurde doch
i°in erstes Ministerium durch die verbündeten Parteien der Conservattven und
Antirevolutionären gestürzt.

Und mit seinem Sturz treten die Parteien immer heftiger auf. Zwar
konnten sie den einmal errungenen Fortschritt nicht mehr rückgängig machen,
sie hinderten die Durchführung der Reorganisation der einzelnen Theile
Staatswesens. Die nach Thorbecke auftretenden Ministerien der conser-
vativen Partei konnten nur etwas zu Stande bringen, wenn sie zugleich
"Ach die liberale Partei in ihren Ansprüchen befriedigten. Es stellte sich
^raus, daß der liberalen Partei, wegen ihrer Majorität die Negierung ge¬
bühre, und so wurde Thorbecke im Jahre 1862 wieder ins Ministerium
^rufen. Indessen fand es sich, daß die Verhältnisse sich seit einem Jahrzehnt


Bedürfnisses entstanden ist, sondern die Maßregel eines verständigen Fürsten
war, der, die Zeichen der Zeit wohl beobachtend, freiwillig dasjenige gab, was
man vielleicht später von ihm gefordert hätte.

Thorbecke blieb bis zum April 1853 Minister des Innern und Leiter
der Regierung. Diese Zeit ist seine Glanzperiode, da sein Einfluß von da
ab nach und nach sinkt. Nachdem die neue Constitution geschaffen war
und man daran ging den ganzen Staatsorganismus zu erneuern, wagten
steh wieder die Parteileidenschaften und der Eigennutz des Einzelnen hervor.
Die kirchlichen Parteien brachten das erste Ministerium Thorbecke's zum
Sturz, Bei der ausgesprochenen Trennung zwischen Kirche und Staat, be¬
eilte sich die römische Curie die Hierarchie in die ihr verliehene vollkommene
Freiheit wieder einzuführen. Der Papst überhäufte die neue Constitution,
obgleich sie der katholischen Kirche jede Freiheit ließ, mit heftigen Schmähungen.
Das erweckte den Argwohn und den Zorn der Calvinisten, die das Land
von den päpstlichen Anmaßungen bedroht sahen. Eine allgemeine Agitation
erfolgte, und der König sah sich genöthigt, den Calvinisten beruhigende Zu-
sicherungen zu geben. Thorbecke, über diesen Schritt des Königs unzufrieden
nahm seine Entlassung.

Im Jahre 1849 glaubte Thorbecke noch, die Partetungen im Lande
hätten aufgehört. In dieser Täuschung konnte er aber nicht lange bleiben.
Der Gedanke, daß in einer Volksvertretung sich nicht Parteien bilden sollten,
daß eine konstitutionelle Regierung schließlich nicht eine Parteiregierung sein
würde, wenn nicht ganz besonders hervorragende Männer an der Spitze der
Regierung stehen, oder die Constitution nicht ein Uebergewicht der Regierung
über die Volksvertretung begründet, — ein solcher Gedanke erscheint sonderbar.
Aber Thorbecke's Ansichten sind hin und wieder gar zu idealistisch, und die
Thatsachen werden ihn manchmal gründlich enttäuscht haben. Wurde er selbst
doch, der das Bestehen von Parteien in der Kammer und dem Lande leugnete,
allgemein als der Führer der liberalen Partei anerkannt, und wurde doch
i°in erstes Ministerium durch die verbündeten Parteien der Conservattven und
Antirevolutionären gestürzt.

Und mit seinem Sturz treten die Parteien immer heftiger auf. Zwar
konnten sie den einmal errungenen Fortschritt nicht mehr rückgängig machen,
sie hinderten die Durchführung der Reorganisation der einzelnen Theile
Staatswesens. Die nach Thorbecke auftretenden Ministerien der conser-
vativen Partei konnten nur etwas zu Stande bringen, wenn sie zugleich
"Ach die liberale Partei in ihren Ansprüchen befriedigten. Es stellte sich
^raus, daß der liberalen Partei, wegen ihrer Majorität die Negierung ge¬
bühre, und so wurde Thorbecke im Jahre 1862 wieder ins Ministerium
^rufen. Indessen fand es sich, daß die Verhältnisse sich seit einem Jahrzehnt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/175>, abgerufen am 05.06.2024.