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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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verändert hatten. Die Katholiken, welche so lange liberal waren, wie sie
vom Liberalismus Freiheiten erlangen konnten, wandten sich gegen denselben,
sobald er ihnen nichts mehr bieten konnte. In Folge der päpstlichen Eney-
clica kamen nur heftige Ultramontane als Abgeordnete in die zweite Kammer
und auch die Calvinisten traten kühner auf. Auch unter den Liberalen zeigten
sich verschiedene Elemente, die sich nicht mehr dem alten Parteihaupte
unterwerfen wollten und den Standpunkt Thorbecke's als veraltet betrachteten.
Thorbecke selbst trat im Jahre 1866, wegen einer Meinungsverschiedenheit
mit seinen College", als Minister ab. Von jetzt an wechseln liberale und
conservative Ministerien, ohne daß eines derselben es zu einer ersprießlichen
Wirksamkeit bringen konnte. Die Parteien in der Kammer machten jede
für sich Jagd auf die Regierung, selbst in dem Bewußtsein, daß sie die er¬
haschte Beute nicht behaupten konnten. Die Liberalen, die zwar immer noch
eine knappe Majorität hatten, waren unter sich uneinig und zeigten ein
klägliches Bild der Unfähigkeit. Da versuchte Thorbecke nochmals im An¬
fange des Jahres 1870 die Liberalen um sein drittes Ministerium zu ver¬
sammeln, aber vergebens. Sein Einfluß war nicht mehr groß genug, die
entfesselten Elemente der Parteisucht und und der persönlichen Interessen
zurück zu drängen. Er hatte den erstorbenen politischen Sinn des Volkes
wieder aufzuwecken versucht, aber auf seinen Ruf waren die alten Leiden¬
schaften, die das Land ins Verderben geführt hatten, erschienen. Diese stellten
sich ihm überall in den Weg und hemmten sein Streben. Der Mann, dem
es früher ein Leichtes war, für seine Gesetze eine große Kammermajorität
zu erlangen, konnte jetzt nur in einzelnen Fällen auf die Annahme seiner
Vorschläge rechnen.

Am 4. Juni 1872 starb Thorbecke. Seinem Andenken wurde vor
einigen Monaten in Amsterdam ein Denkmal errichtet. Die Parteiwuth
seiner Gegner wußte zu bewerkstelligen, daß dieses Denkmal nicht an der
ursprünglich bestimmten Stelle in s'Gravenhage errichtet werden konnte.

Thorbecke sagte, das neue Grundgesetz sei durch die Initiative des Königs
entstanden; mit viel größerem Rechte kann man aber behaupten, daß die
Fortschritte, welche die Niederlande in den letzten dreißig Jahren auf dem
Gebiete der Staatsentwickelung gemacht haben, dem Wirken Thorbecke's zu¬
zuschreiben sind. Er beherrschte eine Zeit lang das ganze politische Leben
des Landes; er war es, der ihm eine neue Verfassung und manche Verbesserung
in der Gesetzgebung gab. Er brachte in den bewegungslosen Staatskörper wieder
Leben und Thätigkeit; aber die Mächte, welche das in früheren Jahrhunderten
so thatkräftige Volk in einen Zustand der Erschlaffung getrieben hatten, schlum¬
merten ebenfalls nur, um bei dem erneuerten Leben auch wieder aufzuwachen.
Sie hinderten nicht allein den von Thorbecke angebahnten Fortschritt, sondern


verändert hatten. Die Katholiken, welche so lange liberal waren, wie sie
vom Liberalismus Freiheiten erlangen konnten, wandten sich gegen denselben,
sobald er ihnen nichts mehr bieten konnte. In Folge der päpstlichen Eney-
clica kamen nur heftige Ultramontane als Abgeordnete in die zweite Kammer
und auch die Calvinisten traten kühner auf. Auch unter den Liberalen zeigten
sich verschiedene Elemente, die sich nicht mehr dem alten Parteihaupte
unterwerfen wollten und den Standpunkt Thorbecke's als veraltet betrachteten.
Thorbecke selbst trat im Jahre 1866, wegen einer Meinungsverschiedenheit
mit seinen College», als Minister ab. Von jetzt an wechseln liberale und
conservative Ministerien, ohne daß eines derselben es zu einer ersprießlichen
Wirksamkeit bringen konnte. Die Parteien in der Kammer machten jede
für sich Jagd auf die Regierung, selbst in dem Bewußtsein, daß sie die er¬
haschte Beute nicht behaupten konnten. Die Liberalen, die zwar immer noch
eine knappe Majorität hatten, waren unter sich uneinig und zeigten ein
klägliches Bild der Unfähigkeit. Da versuchte Thorbecke nochmals im An¬
fange des Jahres 1870 die Liberalen um sein drittes Ministerium zu ver¬
sammeln, aber vergebens. Sein Einfluß war nicht mehr groß genug, die
entfesselten Elemente der Parteisucht und und der persönlichen Interessen
zurück zu drängen. Er hatte den erstorbenen politischen Sinn des Volkes
wieder aufzuwecken versucht, aber auf seinen Ruf waren die alten Leiden¬
schaften, die das Land ins Verderben geführt hatten, erschienen. Diese stellten
sich ihm überall in den Weg und hemmten sein Streben. Der Mann, dem
es früher ein Leichtes war, für seine Gesetze eine große Kammermajorität
zu erlangen, konnte jetzt nur in einzelnen Fällen auf die Annahme seiner
Vorschläge rechnen.

Am 4. Juni 1872 starb Thorbecke. Seinem Andenken wurde vor
einigen Monaten in Amsterdam ein Denkmal errichtet. Die Parteiwuth
seiner Gegner wußte zu bewerkstelligen, daß dieses Denkmal nicht an der
ursprünglich bestimmten Stelle in s'Gravenhage errichtet werden konnte.

Thorbecke sagte, das neue Grundgesetz sei durch die Initiative des Königs
entstanden; mit viel größerem Rechte kann man aber behaupten, daß die
Fortschritte, welche die Niederlande in den letzten dreißig Jahren auf dem
Gebiete der Staatsentwickelung gemacht haben, dem Wirken Thorbecke's zu¬
zuschreiben sind. Er beherrschte eine Zeit lang das ganze politische Leben
des Landes; er war es, der ihm eine neue Verfassung und manche Verbesserung
in der Gesetzgebung gab. Er brachte in den bewegungslosen Staatskörper wieder
Leben und Thätigkeit; aber die Mächte, welche das in früheren Jahrhunderten
so thatkräftige Volk in einen Zustand der Erschlaffung getrieben hatten, schlum¬
merten ebenfalls nur, um bei dem erneuerten Leben auch wieder aufzuwachen.
Sie hinderten nicht allein den von Thorbecke angebahnten Fortschritt, sondern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/176>, abgerufen am 12.06.2024.