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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Gesichtspunkt des Allgemeinen gewürdigt worden sei. Das ist richtig, aber
doch würde richtiger statt des Allgemeinen gesagt worden sein: aus dem
Gesichtspunkt des Staates, des Volkes oder der Nation. Denn über
dem Allgemeinen der Nation steht das Allgemeine derMenschheit und
SU diesem Begriff erheben sich die Alten nie. Ihnen galt es als höchste Ehre,
einem geehrten, ruhmvollen Staatsganzen anzugehören. Ein Fremder galt in
dem Staat, an dem er keinen Theil hatte, als Barbar und hatte mit dem
Recht oder der Rechtlosigkeit eines Sclaven mehr den Werth einer Sache als
den eines Menschen. Nicht das Menschsein, sondern das Athener-, das Spar¬
tanersein gab Werth, und so konnte bei dieser unmittelbaren Verbindung des
Einzelnen mit dem Ganzen das Streben nach individueller Bildung nicht
aufkommen. Woher stammt aber diese Werthschätzung nach dem Allgemeinen
des Staates und nicht nach dem Allgemeinen der Menschheit? Sie stammt
wieder aus der Fassung der Gottesidee. Denn wie die Vorstellung vom
Leben der Seele nur da entstanden ist, wo Gott selbst als persönlich leben¬
diges Wesen gedacht wurde, so erhob sich auch die Vorstellung vom Werth
des Individuums nur da, wo die Vorstellung von Gott als einigem Vater
der gesammten Menschheit lebendig war, und wo damit der einzelne Mensch
"is Kind und Ebenbild Gottes eine Würde und Ehre gewann, die ihn ge¬
wissermaßen unabhängig machte von der Schranke der Nationalität und ihn
anregen konnte, in unmittelbarem Hinblick auf das Unendliche, seine indivi¬
duelle Bildung selbst ins Unendliche zu steigern. Dieser Individualismus
erwachte, wie gesagt, im Is. Jahrhundert; er hat im Faust seinen berühmtesten
Repräsentanten, aber gemäß der damaligen Vorstellung von der Seele bei
einem vorwiegenden Streben nach Wissen und Wahrheit, in der einheitlichen
Richtung auf Ausbildung der Vernunft.

Wo dagegen der Polytheismus den Blick des Menschen an der Local-
gottheit haften läßt, da bleibt auch die Vorstellung auf das Gebiet der Local-
gottheit beschränkt und man fühlt seine Ehre und Würde nur als ein Glied
des von dieser Gottheit verherrlichten Ganzen. Bei dieser Unterordnung des
Einzelnen unter das Ganze fehlt die Anregung aus sittlich freier Erhebung
in individueller Bildung zu erscheinen, und wo trotzdem Bildung auftritt,
^ gilt sie als Luxus und Genuß, wie L. S. 26 mit Recht erwähnt, und
an den Beispielen der griechischen Hetären und der römischen äomina, zeigt.

Lazarus scheidet dabei alte und neue Zeiten; aber es ist doch zu er-
^nem, daß man eigentlich erst seit Kant des Princips der Entwicklung der
Seele bewußt wurde, so daß auch erst seit dieser Zeit die Nothwendigkett der
Bildung allseitiger erfaßt wurde. Ueberdies ist nichts feinfühliger als die
^dee, und so kann auch in neueren Zeiten bei materialistischen Vorstellungen,
beim Haften an äußerem Schein, bei Werthschätzung des Anständigen statt


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Gesichtspunkt des Allgemeinen gewürdigt worden sei. Das ist richtig, aber
doch würde richtiger statt des Allgemeinen gesagt worden sein: aus dem
Gesichtspunkt des Staates, des Volkes oder der Nation. Denn über
dem Allgemeinen der Nation steht das Allgemeine derMenschheit und
SU diesem Begriff erheben sich die Alten nie. Ihnen galt es als höchste Ehre,
einem geehrten, ruhmvollen Staatsganzen anzugehören. Ein Fremder galt in
dem Staat, an dem er keinen Theil hatte, als Barbar und hatte mit dem
Recht oder der Rechtlosigkeit eines Sclaven mehr den Werth einer Sache als
den eines Menschen. Nicht das Menschsein, sondern das Athener-, das Spar¬
tanersein gab Werth, und so konnte bei dieser unmittelbaren Verbindung des
Einzelnen mit dem Ganzen das Streben nach individueller Bildung nicht
aufkommen. Woher stammt aber diese Werthschätzung nach dem Allgemeinen
des Staates und nicht nach dem Allgemeinen der Menschheit? Sie stammt
wieder aus der Fassung der Gottesidee. Denn wie die Vorstellung vom
Leben der Seele nur da entstanden ist, wo Gott selbst als persönlich leben¬
diges Wesen gedacht wurde, so erhob sich auch die Vorstellung vom Werth
des Individuums nur da, wo die Vorstellung von Gott als einigem Vater
der gesammten Menschheit lebendig war, und wo damit der einzelne Mensch
»is Kind und Ebenbild Gottes eine Würde und Ehre gewann, die ihn ge¬
wissermaßen unabhängig machte von der Schranke der Nationalität und ihn
anregen konnte, in unmittelbarem Hinblick auf das Unendliche, seine indivi¬
duelle Bildung selbst ins Unendliche zu steigern. Dieser Individualismus
erwachte, wie gesagt, im Is. Jahrhundert; er hat im Faust seinen berühmtesten
Repräsentanten, aber gemäß der damaligen Vorstellung von der Seele bei
einem vorwiegenden Streben nach Wissen und Wahrheit, in der einheitlichen
Richtung auf Ausbildung der Vernunft.

Wo dagegen der Polytheismus den Blick des Menschen an der Local-
gottheit haften läßt, da bleibt auch die Vorstellung auf das Gebiet der Local-
gottheit beschränkt und man fühlt seine Ehre und Würde nur als ein Glied
des von dieser Gottheit verherrlichten Ganzen. Bei dieser Unterordnung des
Einzelnen unter das Ganze fehlt die Anregung aus sittlich freier Erhebung
in individueller Bildung zu erscheinen, und wo trotzdem Bildung auftritt,
^ gilt sie als Luxus und Genuß, wie L. S. 26 mit Recht erwähnt, und
an den Beispielen der griechischen Hetären und der römischen äomina, zeigt.

Lazarus scheidet dabei alte und neue Zeiten; aber es ist doch zu er-
^nem, daß man eigentlich erst seit Kant des Princips der Entwicklung der
Seele bewußt wurde, so daß auch erst seit dieser Zeit die Nothwendigkett der
Bildung allseitiger erfaßt wurde. Ueberdies ist nichts feinfühliger als die
^dee, und so kann auch in neueren Zeiten bei materialistischen Vorstellungen,
beim Haften an äußerem Schein, bei Werthschätzung des Anständigen statt


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[0197] Gesichtspunkt des Allgemeinen gewürdigt worden sei. Das ist richtig, aber doch würde richtiger statt des Allgemeinen gesagt worden sein: aus dem Gesichtspunkt des Staates, des Volkes oder der Nation. Denn über dem Allgemeinen der Nation steht das Allgemeine derMenschheit und SU diesem Begriff erheben sich die Alten nie. Ihnen galt es als höchste Ehre, einem geehrten, ruhmvollen Staatsganzen anzugehören. Ein Fremder galt in dem Staat, an dem er keinen Theil hatte, als Barbar und hatte mit dem Recht oder der Rechtlosigkeit eines Sclaven mehr den Werth einer Sache als den eines Menschen. Nicht das Menschsein, sondern das Athener-, das Spar¬ tanersein gab Werth, und so konnte bei dieser unmittelbaren Verbindung des Einzelnen mit dem Ganzen das Streben nach individueller Bildung nicht aufkommen. Woher stammt aber diese Werthschätzung nach dem Allgemeinen des Staates und nicht nach dem Allgemeinen der Menschheit? Sie stammt wieder aus der Fassung der Gottesidee. Denn wie die Vorstellung vom Leben der Seele nur da entstanden ist, wo Gott selbst als persönlich leben¬ diges Wesen gedacht wurde, so erhob sich auch die Vorstellung vom Werth des Individuums nur da, wo die Vorstellung von Gott als einigem Vater der gesammten Menschheit lebendig war, und wo damit der einzelne Mensch »is Kind und Ebenbild Gottes eine Würde und Ehre gewann, die ihn ge¬ wissermaßen unabhängig machte von der Schranke der Nationalität und ihn anregen konnte, in unmittelbarem Hinblick auf das Unendliche, seine indivi¬ duelle Bildung selbst ins Unendliche zu steigern. Dieser Individualismus erwachte, wie gesagt, im Is. Jahrhundert; er hat im Faust seinen berühmtesten Repräsentanten, aber gemäß der damaligen Vorstellung von der Seele bei einem vorwiegenden Streben nach Wissen und Wahrheit, in der einheitlichen Richtung auf Ausbildung der Vernunft. Wo dagegen der Polytheismus den Blick des Menschen an der Local- gottheit haften läßt, da bleibt auch die Vorstellung auf das Gebiet der Local- gottheit beschränkt und man fühlt seine Ehre und Würde nur als ein Glied des von dieser Gottheit verherrlichten Ganzen. Bei dieser Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze fehlt die Anregung aus sittlich freier Erhebung in individueller Bildung zu erscheinen, und wo trotzdem Bildung auftritt, ^ gilt sie als Luxus und Genuß, wie L. S. 26 mit Recht erwähnt, und an den Beispielen der griechischen Hetären und der römischen äomina, zeigt. Lazarus scheidet dabei alte und neue Zeiten; aber es ist doch zu er- ^nem, daß man eigentlich erst seit Kant des Princips der Entwicklung der Seele bewußt wurde, so daß auch erst seit dieser Zeit die Nothwendigkett der Bildung allseitiger erfaßt wurde. Ueberdies ist nichts feinfühliger als die ^dee, und so kann auch in neueren Zeiten bei materialistischen Vorstellungen, beim Haften an äußerem Schein, bei Werthschätzung des Anständigen statt Grenzboten IV. 187K. 25

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/197>, abgerufen am 05.06.2024.