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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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verarbeitet, und die nicht blos zu seiner Erhaltung, sondern auch innerer Ent¬
faltung und lebendiger Thätigkeit dient."

Dies ist einer jener fortschrittlichen Gesichtspunkte, durch welche sich L.
so hoch über jene Seelenlehrer stellt, welche meinen, die Seele als ein ein¬
faches Wesen darstellen zu müssen, weil sie einheitlich wirkt und weil
sie als reales Ding nicht theilbar sein soll. Die Seele ist gleich einem Or¬
ganismus, sie wächst und entfaltet sich wie er; aber sie ist auch mehr wie ein
Organismus, so daß jede Entfaltung nicht blos eine räumliche Erweiterung
oder eine wiederholte Neubildung von vorher schon Dagewesenem ist, sondern
jede Entfaltung ist zugleich eine Bereicherung des Selbstbesitzes der Seele
sie ist ein Zuschlag zu dem vorhandenen Capital, sie stärkt und vermehrt das
geistige Vermögen des Menschen, so daß er "wächst mit seinen Zwecken".
Man kann sagen, mit jeder wesentlichen Bereicherung wird die Persönlichkeit
des Menschen eine andere, insofern er mit tieferer Weltanschauung auch
reichere Lebensideale zu verwirklichen strebt.

Indem nun L. von der allgemeinen und speciellen Bildung spricht, be¬
klagt er beim Handwerk, daß die Theilung der Arbeit die Bildung vermindere.
Beherzigenswerte Worte sagt er dabei (S. 68): Kenntnisse und Fertigkeiten
Neben ihren Gewerben beigebracht, nützen nach ihm den Handwerkern wenig.
Und er hat Recht, denn ein Vortrag über den Sauerstoff oder das Planeten¬
system nützt dem Schuster neben seinem Handwerk wenig. Heutzutage sieht
Man freilich oft in solchen fernliegenden Stoffen ein Bildungsmittel der
Handwerker; als ob Belehrungen über die Idee der Sittlichkeit nicht näher
lägen und durch Erweckung der Pflichttreue nicht auch dem Geschäfte selbst zu
gute kämen! S. 71 weist L. darauf hin, was anzuerkennen man freilich
noch wenig geneigt sei, daß auch in wissenschaftlicher Thätigkeit die Theilung
der Arbeit der Bildung der Personen, wie der Schöpfung der Sachen von
Nachtheil sei.

Ordnung, System, Principien, Gesetze, Methode -- ich füge hinzu Kritik
^ machen den Bestand und den Fortschritt einer Wissenschaft aus (S. 77);
"ber sie bilden zugleich den Bildungsgehalt eines jeden Wissensgebietes. In
ihrer Aneignung, in ihrem klaren Verständniß liegt das Wesentliche einer all¬
gemeinen Bildung, welche freilich wie die Wissenschaft selbst stets Ideal
bleibe" wird, da sie durch einen bestimmten centralen Ausgang stets indi¬
viduell gefärbt ist (S. 79). Das Hauptkriterium für den Grad der Bildung
liegt aber in der Kenntniß der Nationalliteratur (S. 83). Denn die Reife
^ öffentlichen Bildung des Volkes giebt sich zumal in der Sprache kund.
^ Sprachschatz und die Sprachgewalt, die Stil- und Ausdrucksweise eines
Volkes spiegelt und manifestirt sich in seiner Nationalliteratur; und die Be-
^"ntschaft der Werke der Dichter und ihrer Geschichte sind das eigentliche


verarbeitet, und die nicht blos zu seiner Erhaltung, sondern auch innerer Ent¬
faltung und lebendiger Thätigkeit dient."

Dies ist einer jener fortschrittlichen Gesichtspunkte, durch welche sich L.
so hoch über jene Seelenlehrer stellt, welche meinen, die Seele als ein ein¬
faches Wesen darstellen zu müssen, weil sie einheitlich wirkt und weil
sie als reales Ding nicht theilbar sein soll. Die Seele ist gleich einem Or¬
ganismus, sie wächst und entfaltet sich wie er; aber sie ist auch mehr wie ein
Organismus, so daß jede Entfaltung nicht blos eine räumliche Erweiterung
oder eine wiederholte Neubildung von vorher schon Dagewesenem ist, sondern
jede Entfaltung ist zugleich eine Bereicherung des Selbstbesitzes der Seele
sie ist ein Zuschlag zu dem vorhandenen Capital, sie stärkt und vermehrt das
geistige Vermögen des Menschen, so daß er „wächst mit seinen Zwecken".
Man kann sagen, mit jeder wesentlichen Bereicherung wird die Persönlichkeit
des Menschen eine andere, insofern er mit tieferer Weltanschauung auch
reichere Lebensideale zu verwirklichen strebt.

Indem nun L. von der allgemeinen und speciellen Bildung spricht, be¬
klagt er beim Handwerk, daß die Theilung der Arbeit die Bildung vermindere.
Beherzigenswerte Worte sagt er dabei (S. 68): Kenntnisse und Fertigkeiten
Neben ihren Gewerben beigebracht, nützen nach ihm den Handwerkern wenig.
Und er hat Recht, denn ein Vortrag über den Sauerstoff oder das Planeten¬
system nützt dem Schuster neben seinem Handwerk wenig. Heutzutage sieht
Man freilich oft in solchen fernliegenden Stoffen ein Bildungsmittel der
Handwerker; als ob Belehrungen über die Idee der Sittlichkeit nicht näher
lägen und durch Erweckung der Pflichttreue nicht auch dem Geschäfte selbst zu
gute kämen! S. 71 weist L. darauf hin, was anzuerkennen man freilich
noch wenig geneigt sei, daß auch in wissenschaftlicher Thätigkeit die Theilung
der Arbeit der Bildung der Personen, wie der Schöpfung der Sachen von
Nachtheil sei.

Ordnung, System, Principien, Gesetze, Methode — ich füge hinzu Kritik
^ machen den Bestand und den Fortschritt einer Wissenschaft aus (S. 77);
"ber sie bilden zugleich den Bildungsgehalt eines jeden Wissensgebietes. In
ihrer Aneignung, in ihrem klaren Verständniß liegt das Wesentliche einer all¬
gemeinen Bildung, welche freilich wie die Wissenschaft selbst stets Ideal
bleibe« wird, da sie durch einen bestimmten centralen Ausgang stets indi¬
viduell gefärbt ist (S. 79). Das Hauptkriterium für den Grad der Bildung
liegt aber in der Kenntniß der Nationalliteratur (S. 83). Denn die Reife
^ öffentlichen Bildung des Volkes giebt sich zumal in der Sprache kund.
^ Sprachschatz und die Sprachgewalt, die Stil- und Ausdrucksweise eines
Volkes spiegelt und manifestirt sich in seiner Nationalliteratur; und die Be-
^"ntschaft der Werke der Dichter und ihrer Geschichte sind das eigentliche


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[0199] verarbeitet, und die nicht blos zu seiner Erhaltung, sondern auch innerer Ent¬ faltung und lebendiger Thätigkeit dient." Dies ist einer jener fortschrittlichen Gesichtspunkte, durch welche sich L. so hoch über jene Seelenlehrer stellt, welche meinen, die Seele als ein ein¬ faches Wesen darstellen zu müssen, weil sie einheitlich wirkt und weil sie als reales Ding nicht theilbar sein soll. Die Seele ist gleich einem Or¬ ganismus, sie wächst und entfaltet sich wie er; aber sie ist auch mehr wie ein Organismus, so daß jede Entfaltung nicht blos eine räumliche Erweiterung oder eine wiederholte Neubildung von vorher schon Dagewesenem ist, sondern jede Entfaltung ist zugleich eine Bereicherung des Selbstbesitzes der Seele sie ist ein Zuschlag zu dem vorhandenen Capital, sie stärkt und vermehrt das geistige Vermögen des Menschen, so daß er „wächst mit seinen Zwecken". Man kann sagen, mit jeder wesentlichen Bereicherung wird die Persönlichkeit des Menschen eine andere, insofern er mit tieferer Weltanschauung auch reichere Lebensideale zu verwirklichen strebt. Indem nun L. von der allgemeinen und speciellen Bildung spricht, be¬ klagt er beim Handwerk, daß die Theilung der Arbeit die Bildung vermindere. Beherzigenswerte Worte sagt er dabei (S. 68): Kenntnisse und Fertigkeiten Neben ihren Gewerben beigebracht, nützen nach ihm den Handwerkern wenig. Und er hat Recht, denn ein Vortrag über den Sauerstoff oder das Planeten¬ system nützt dem Schuster neben seinem Handwerk wenig. Heutzutage sieht Man freilich oft in solchen fernliegenden Stoffen ein Bildungsmittel der Handwerker; als ob Belehrungen über die Idee der Sittlichkeit nicht näher lägen und durch Erweckung der Pflichttreue nicht auch dem Geschäfte selbst zu gute kämen! S. 71 weist L. darauf hin, was anzuerkennen man freilich noch wenig geneigt sei, daß auch in wissenschaftlicher Thätigkeit die Theilung der Arbeit der Bildung der Personen, wie der Schöpfung der Sachen von Nachtheil sei. Ordnung, System, Principien, Gesetze, Methode — ich füge hinzu Kritik ^ machen den Bestand und den Fortschritt einer Wissenschaft aus (S. 77); "ber sie bilden zugleich den Bildungsgehalt eines jeden Wissensgebietes. In ihrer Aneignung, in ihrem klaren Verständniß liegt das Wesentliche einer all¬ gemeinen Bildung, welche freilich wie die Wissenschaft selbst stets Ideal bleibe« wird, da sie durch einen bestimmten centralen Ausgang stets indi¬ viduell gefärbt ist (S. 79). Das Hauptkriterium für den Grad der Bildung liegt aber in der Kenntniß der Nationalliteratur (S. 83). Denn die Reife ^ öffentlichen Bildung des Volkes giebt sich zumal in der Sprache kund. ^ Sprachschatz und die Sprachgewalt, die Stil- und Ausdrucksweise eines Volkes spiegelt und manifestirt sich in seiner Nationalliteratur; und die Be- ^"ntschaft der Werke der Dichter und ihrer Geschichte sind das eigentliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/199>, abgerufen am 15.05.2024.