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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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annähernd ähnlichen Lage befanden, wie die Alt-Livländer um 1360, be¬
waffnete Hilfe und Befreiung vom Joch der Fremden brachte. Dann aber
wurde er unter den wuchtigen Schlägen der gewaltigen Preußen in alle
Winde zersprengt und an seine Stelle eine Verfassung gesetzt, die wenn sie
auch in vielen Beziehungen Wünsche unbefriedigt ließ, dem Auslande gegen¬
über doch die Kraft und den Willen zur Geltung kommen ließ, überall die
Angehörigen des neuen Reichs in ihren Rechten zu schützen. Freilich giebt
es noch -- welcher Deutsche sollte das nicht wissen und schmerzlich empfinden!
-- eine Stelle auf der Karte Europas, wo ein ganzer achtungswerther Ast
des deutschen Stammes von einem kleinen, der Kultur wenig zugänglichen
Volke schwer gemißhandelt und seiner Rechte beraubt wird. Aber die sieben-
bürgischen Sachsen gehören nicht zum neuen und haben auch nie zum alten
deutschen Reiche gehört, und wir können sie um so weniger gegen ihre
Peiniger schützen, als sie auf den Schutz ihres eignen deutschen Herrscherhauses
angewiesen sind und einen mächtigen Rückhalt an den Stammgenossen be¬
sitzen, die mit ihnen seit Jahrhunderten staatlich verbunden sind. Giebt das
deutsche Oesterreich seine treusten Mitbürger und Blutsverwandten den Frem¬
den preis, wie kann Deutschland über den Kopf seines Bundesgenossen hin¬
weg ihnen Beistand leisten? Immerhin können die Herren Magyaren dessen
sicher sein, daß der Tag kommen wird, an dem sie die tiefe Verletzung un¬
seres Nationalgefühls durch ihr schnödes Verfahren in Siebenbürgen noch
schwer bereuen werden.

Doch kehren wir zu dem deutschen Tochterlande Livland zurück, indem
wir zunächst unserer Genugthuung darüber Ausdruck geben, daß dasselbe
uns, zur Zeit wenigstens, keine Sorgen wegen Unterdrückung unserer Stamm¬
genossen verursacht. Gewichtige baltische Stimmen bekunden, daß die russische
Regierung in den letzten Jahren ihre Russifizirungsmaßregeln im wesentlichen
eingestellt hat und daß die Ballen einerseits ihr gegenüber beruhigt sind,
anderseits in ihrem konservativen Sinne und in ihren zurückgebliebenen
politischen Anschauungen durch die vielfachen Verletzungen des historischen
Rechts und die rasche Auflösung veralteter Formen von Preußen sich lebhaft ab¬
gestoßen fühlen. Daß manche unter ihnen dennoch die Herrschaft der Frem¬
den unerträglich finden, ist sehr natürlich. Einen Beleg dafür liefert die
Verlegung der "Dörptschen Zeitung" von Dorpat nach Lübeck, indem ihr
Besitzer, Herr W. Gläser, dahin ausgewandert ist und sie nun unter dem
Titel "Livländischdeutsche Hefte" herausgiebt. Die zwei ersten Hefte liegen
uns vor; sie bieten eine ganze Anzahl von Aufsätzen, welche Ereignisse und
Charaktere aus der älteren und neueren Geschichte Livlands schildern. Der
Ton, in dem sie versaßt sind, ist ein deutsch-patriotischer, der den Russen frei-


annähernd ähnlichen Lage befanden, wie die Alt-Livländer um 1360, be¬
waffnete Hilfe und Befreiung vom Joch der Fremden brachte. Dann aber
wurde er unter den wuchtigen Schlägen der gewaltigen Preußen in alle
Winde zersprengt und an seine Stelle eine Verfassung gesetzt, die wenn sie
auch in vielen Beziehungen Wünsche unbefriedigt ließ, dem Auslande gegen¬
über doch die Kraft und den Willen zur Geltung kommen ließ, überall die
Angehörigen des neuen Reichs in ihren Rechten zu schützen. Freilich giebt
es noch — welcher Deutsche sollte das nicht wissen und schmerzlich empfinden!
— eine Stelle auf der Karte Europas, wo ein ganzer achtungswerther Ast
des deutschen Stammes von einem kleinen, der Kultur wenig zugänglichen
Volke schwer gemißhandelt und seiner Rechte beraubt wird. Aber die sieben-
bürgischen Sachsen gehören nicht zum neuen und haben auch nie zum alten
deutschen Reiche gehört, und wir können sie um so weniger gegen ihre
Peiniger schützen, als sie auf den Schutz ihres eignen deutschen Herrscherhauses
angewiesen sind und einen mächtigen Rückhalt an den Stammgenossen be¬
sitzen, die mit ihnen seit Jahrhunderten staatlich verbunden sind. Giebt das
deutsche Oesterreich seine treusten Mitbürger und Blutsverwandten den Frem¬
den preis, wie kann Deutschland über den Kopf seines Bundesgenossen hin¬
weg ihnen Beistand leisten? Immerhin können die Herren Magyaren dessen
sicher sein, daß der Tag kommen wird, an dem sie die tiefe Verletzung un¬
seres Nationalgefühls durch ihr schnödes Verfahren in Siebenbürgen noch
schwer bereuen werden.

Doch kehren wir zu dem deutschen Tochterlande Livland zurück, indem
wir zunächst unserer Genugthuung darüber Ausdruck geben, daß dasselbe
uns, zur Zeit wenigstens, keine Sorgen wegen Unterdrückung unserer Stamm¬
genossen verursacht. Gewichtige baltische Stimmen bekunden, daß die russische
Regierung in den letzten Jahren ihre Russifizirungsmaßregeln im wesentlichen
eingestellt hat und daß die Ballen einerseits ihr gegenüber beruhigt sind,
anderseits in ihrem konservativen Sinne und in ihren zurückgebliebenen
politischen Anschauungen durch die vielfachen Verletzungen des historischen
Rechts und die rasche Auflösung veralteter Formen von Preußen sich lebhaft ab¬
gestoßen fühlen. Daß manche unter ihnen dennoch die Herrschaft der Frem¬
den unerträglich finden, ist sehr natürlich. Einen Beleg dafür liefert die
Verlegung der „Dörptschen Zeitung" von Dorpat nach Lübeck, indem ihr
Besitzer, Herr W. Gläser, dahin ausgewandert ist und sie nun unter dem
Titel „Livländischdeutsche Hefte" herausgiebt. Die zwei ersten Hefte liegen
uns vor; sie bieten eine ganze Anzahl von Aufsätzen, welche Ereignisse und
Charaktere aus der älteren und neueren Geschichte Livlands schildern. Der
Ton, in dem sie versaßt sind, ist ein deutsch-patriotischer, der den Russen frei-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/438>, abgerufen am 29.05.2024.