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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Dichter Gottfried, den Stadtschreiber von Straßburg. Das giebt uns Ver¬
anlassung von einer kleinen historischen Schrift zu sprechen, die den gelehrten
Straßburger Forscher, Professor CarlSchmidt, zum Verfasser hat. Derselbe
hat kürzlich die kritische Frage untersucht: Ist Gottfried von Straß,
bürg (der Dichter) Straßburger Stadtschretber gewesen? Seit
Hermann Kurz, der bekannte Literarhistoriker, in Pfeiffer's Germania,
sich in diesem Sinne ausgesprochen hatte, galt es als unumstößliche That¬
sache, daß Gottfried von Straßburg Stadtschreiber gewesen war. Worauf
aber gründet sich die Vorausetzung von Kurz? Auf zwei Urkunden von 1207,
welche König Philipp von Straßburg aus dem Markgrafen Azzo von Este
ausstellte. In diesen beiden Documenten, die Kurz nach Lunig (Loäex
Iwliae llixlomatieus) citirt, kommt unter den Zeugen, die dieselben unter¬
schrieben haben, HoÄökreüus Kocielarius Ah ^rAsutwu, vor, das gewöhnlich
auf Gottfried von Straßburg bezogen wird. Das Rodelarius wird dabei
als synoym von Rotularius aufgefaßt; Rödel ist aber die deutsche Form
des lateinischen rotu 1 us. Rodelarius oder Rotularius könnte aber möglicher¬
weise, obwohl es sonst selten in dieser Form vorkommt, gleichbedeutend mit
Schreiber sein. Nun aber erhebt sich eine eigenthümliche Schwierigkeit; der
gelehrte Muratori, der diesen Text am ersten im Jahre 1717 veröffent¬
lichte, hat die Lesart Radelarius; daraus hat Lunig Rodelarius und
später Grandidier Stadel arius, den Stadel er, den Aufseher der bischöf¬
lichen Scheunen gemacht. Um sich aus diesem Chaos von Lesarten eine Gewi߬
heit zu verschaffen, hat Professor Schmidt Nachforschungen im Archiv von
Modena angestellt; aus denselben geht hervor, daß die Originale beider
Urkunden zwar nicht mehr eristiren, dagegen aber eine Copie aus der Mitte
des 15. Jahrhunderts; in derselben steht aber weder Radelarius, noch
Rodelarius, noch Rotularius, noch Stadelarius, was alles fal¬
sche Lesarten sind, sondern Koäetnäus ^iäklarius 6s ^rMlltma. Professor
Schmidt ist geneigt das Zidelarius als einen adeligen Geschlechtsnamen
anzunehmen, um so mehr, als um jene Zeit zu Straßburg mehrere Ritter
vorkommen, die den Namen Cidel arius führen. Aus der ganzen Beweis¬
führung des gelehrten Straßburger Geschichtsforschers geht zur Genüge hervor,
daß die Annahme, Gottfried von Straßburg sei im Jahre 1207 Stadtschreiber
gewesen, historisch nicht begründet ist. Zu den angeführten, mehr formalen
Gründen kann man unsers Bedünkens auch den Umstand hervorheben, daß
die Anfänge des Straßburger Rathes erst in das Jahr 1212 gehen, und daß
zu jener Zeit, wenn überhaupt damals ein Stadtschreiber zu Straßburg
existirte, derselbe damals keineswegs zu den bedeutenden Persönlichkeiten der
Stadt gehört haben wird, wie dieses später der Fall war. Schließlich bemerken
wir zu der angegebenen gehaltvollen Broschüre von Prof. Schmidt, daß auch die


Dichter Gottfried, den Stadtschreiber von Straßburg. Das giebt uns Ver¬
anlassung von einer kleinen historischen Schrift zu sprechen, die den gelehrten
Straßburger Forscher, Professor CarlSchmidt, zum Verfasser hat. Derselbe
hat kürzlich die kritische Frage untersucht: Ist Gottfried von Straß,
bürg (der Dichter) Straßburger Stadtschretber gewesen? Seit
Hermann Kurz, der bekannte Literarhistoriker, in Pfeiffer's Germania,
sich in diesem Sinne ausgesprochen hatte, galt es als unumstößliche That¬
sache, daß Gottfried von Straßburg Stadtschreiber gewesen war. Worauf
aber gründet sich die Vorausetzung von Kurz? Auf zwei Urkunden von 1207,
welche König Philipp von Straßburg aus dem Markgrafen Azzo von Este
ausstellte. In diesen beiden Documenten, die Kurz nach Lunig (Loäex
Iwliae llixlomatieus) citirt, kommt unter den Zeugen, die dieselben unter¬
schrieben haben, HoÄökreüus Kocielarius Ah ^rAsutwu, vor, das gewöhnlich
auf Gottfried von Straßburg bezogen wird. Das Rodelarius wird dabei
als synoym von Rotularius aufgefaßt; Rödel ist aber die deutsche Form
des lateinischen rotu 1 us. Rodelarius oder Rotularius könnte aber möglicher¬
weise, obwohl es sonst selten in dieser Form vorkommt, gleichbedeutend mit
Schreiber sein. Nun aber erhebt sich eine eigenthümliche Schwierigkeit; der
gelehrte Muratori, der diesen Text am ersten im Jahre 1717 veröffent¬
lichte, hat die Lesart Radelarius; daraus hat Lunig Rodelarius und
später Grandidier Stadel arius, den Stadel er, den Aufseher der bischöf¬
lichen Scheunen gemacht. Um sich aus diesem Chaos von Lesarten eine Gewi߬
heit zu verschaffen, hat Professor Schmidt Nachforschungen im Archiv von
Modena angestellt; aus denselben geht hervor, daß die Originale beider
Urkunden zwar nicht mehr eristiren, dagegen aber eine Copie aus der Mitte
des 15. Jahrhunderts; in derselben steht aber weder Radelarius, noch
Rodelarius, noch Rotularius, noch Stadelarius, was alles fal¬
sche Lesarten sind, sondern Koäetnäus ^iäklarius 6s ^rMlltma. Professor
Schmidt ist geneigt das Zidelarius als einen adeligen Geschlechtsnamen
anzunehmen, um so mehr, als um jene Zeit zu Straßburg mehrere Ritter
vorkommen, die den Namen Cidel arius führen. Aus der ganzen Beweis¬
führung des gelehrten Straßburger Geschichtsforschers geht zur Genüge hervor,
daß die Annahme, Gottfried von Straßburg sei im Jahre 1207 Stadtschreiber
gewesen, historisch nicht begründet ist. Zu den angeführten, mehr formalen
Gründen kann man unsers Bedünkens auch den Umstand hervorheben, daß
die Anfänge des Straßburger Rathes erst in das Jahr 1212 gehen, und daß
zu jener Zeit, wenn überhaupt damals ein Stadtschreiber zu Straßburg
existirte, derselbe damals keineswegs zu den bedeutenden Persönlichkeiten der
Stadt gehört haben wird, wie dieses später der Fall war. Schließlich bemerken
wir zu der angegebenen gehaltvollen Broschüre von Prof. Schmidt, daß auch die


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[0058] Dichter Gottfried, den Stadtschreiber von Straßburg. Das giebt uns Ver¬ anlassung von einer kleinen historischen Schrift zu sprechen, die den gelehrten Straßburger Forscher, Professor CarlSchmidt, zum Verfasser hat. Derselbe hat kürzlich die kritische Frage untersucht: Ist Gottfried von Straß, bürg (der Dichter) Straßburger Stadtschretber gewesen? Seit Hermann Kurz, der bekannte Literarhistoriker, in Pfeiffer's Germania, sich in diesem Sinne ausgesprochen hatte, galt es als unumstößliche That¬ sache, daß Gottfried von Straßburg Stadtschreiber gewesen war. Worauf aber gründet sich die Vorausetzung von Kurz? Auf zwei Urkunden von 1207, welche König Philipp von Straßburg aus dem Markgrafen Azzo von Este ausstellte. In diesen beiden Documenten, die Kurz nach Lunig (Loäex Iwliae llixlomatieus) citirt, kommt unter den Zeugen, die dieselben unter¬ schrieben haben, HoÄökreüus Kocielarius Ah ^rAsutwu, vor, das gewöhnlich auf Gottfried von Straßburg bezogen wird. Das Rodelarius wird dabei als synoym von Rotularius aufgefaßt; Rödel ist aber die deutsche Form des lateinischen rotu 1 us. Rodelarius oder Rotularius könnte aber möglicher¬ weise, obwohl es sonst selten in dieser Form vorkommt, gleichbedeutend mit Schreiber sein. Nun aber erhebt sich eine eigenthümliche Schwierigkeit; der gelehrte Muratori, der diesen Text am ersten im Jahre 1717 veröffent¬ lichte, hat die Lesart Radelarius; daraus hat Lunig Rodelarius und später Grandidier Stadel arius, den Stadel er, den Aufseher der bischöf¬ lichen Scheunen gemacht. Um sich aus diesem Chaos von Lesarten eine Gewi߬ heit zu verschaffen, hat Professor Schmidt Nachforschungen im Archiv von Modena angestellt; aus denselben geht hervor, daß die Originale beider Urkunden zwar nicht mehr eristiren, dagegen aber eine Copie aus der Mitte des 15. Jahrhunderts; in derselben steht aber weder Radelarius, noch Rodelarius, noch Rotularius, noch Stadelarius, was alles fal¬ sche Lesarten sind, sondern Koäetnäus ^iäklarius 6s ^rMlltma. Professor Schmidt ist geneigt das Zidelarius als einen adeligen Geschlechtsnamen anzunehmen, um so mehr, als um jene Zeit zu Straßburg mehrere Ritter vorkommen, die den Namen Cidel arius führen. Aus der ganzen Beweis¬ führung des gelehrten Straßburger Geschichtsforschers geht zur Genüge hervor, daß die Annahme, Gottfried von Straßburg sei im Jahre 1207 Stadtschreiber gewesen, historisch nicht begründet ist. Zu den angeführten, mehr formalen Gründen kann man unsers Bedünkens auch den Umstand hervorheben, daß die Anfänge des Straßburger Rathes erst in das Jahr 1212 gehen, und daß zu jener Zeit, wenn überhaupt damals ein Stadtschreiber zu Straßburg existirte, derselbe damals keineswegs zu den bedeutenden Persönlichkeiten der Stadt gehört haben wird, wie dieses später der Fall war. Schließlich bemerken wir zu der angegebenen gehaltvollen Broschüre von Prof. Schmidt, daß auch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/58>, abgerufen am 29.05.2024.