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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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den heiligen zwölf Nächten oder Loostagen, d. h. vom Weihnachtsabend bis
zum Abend des Dreikönigstags, durch Umwinden mit Strohseilen fruchtbar
zu machen. In Schlesien erstrebt man den gleichen Zweck dadurch, daß man
am Sylvesterabend in ihre Zweige hinein schießt, in Mecklenburg steckt man
an demselben Abend ein Geldstück in einen Spalt ihrer Rinde. In Hessen
wird ein junger zum ersten Male tragender Baum fruchtbar gemacht, wenn
man seine Früchte von einem noch auf dem Arme getragenen Kinde oder
mindestens von einem Kinde unter sieben Jahren abpflücken läßt. In der Alt¬
mark bewirkt man dasselbe, wenn man die Aepfel oder Birnen in einen recht großen
Sack pflückt und einige davon am Baume läßt. Werden in Schlesien die
ersten Früchte gestohlen, so trägt der verstimmte Baum ganze sieben Jahre
nicht mehr. Wenn in der Wetterau auf einem Gehöft der Hofhund stirbt,
so muß man ihn unter einem Obstbaum des Gartens begraben, da derselbe
dann sehr reichlich trägt, eine Regel, die auch in Schlesien gilt.

So ist denn die Zeit der Pflege von Feld und Garten vergangen.
Mancherlei andere Regeln, oft sinnreich, bisweilen sinnlos, hatte der Alt¬
gläubige noch zu beobachten; denn groß ist in den Kreisen, wo die Rocken¬
philosophie der guten alten Zeit noch das Regiment führt, das Kapitel von
dem, was man soll und nicht soll. Er hat sie befolgt, treu und sorgfältig,
wie es ihm gelehrt worden, wenn auch nicht mit dem vollen Glauben an sie
wie seine Väter. Der gewissenhaft angewandte Zauber hat seine Wirkung
gethan, die gewissenhafte Arbeit mit Pflug und Hacke noch bessere, der Himmel
mit Sonne und Regen, je nach des Jahres Art, die beste. Die Ernte ist da,
um den Arbeitern ihren Lohn zu reichen, und auch sie ist mit einem Kranze
von Bräuchen umgeben, die in Süddeutschland und Norddeutschland im
Wesentlichen verwandt sind und hier wie dort mehr oder minder deutlich auf
die Zeit zurückweisen, wo man noch Wuotan und der Erdmutter Herke
opferte.

Wir heben von diesen Sitten der Erntezeit vor allem die hervor, die sich
auf die Behandlung bezieht, welcher der letzten Garbe auf dem Stoppelfelde
zu Theil wird. Die älteste Gestalt dieses Gebrauches finden wir in Nord¬
deutschland. In Mecklenburg und der Mark läßt man (ließ man wenigstens
noch vor einigen Jahrzehnten) bei der Roggenernte einen Theil des Getreides,
der oben zusammengebunden wird, auf dem Felde stehen. Um diesen Getreide-
büschel, den man mit Bier besprengt, sammeln sich nach vollbrachter Arbeit
die Schnitter, nehmen die Hüte ab. richten die Sensen aufwärts und rufen:


"Wode. Wode
Hat dinen Päre nu Foder,
Nu Distel unde Dorn
Tom andern Jahr beler Korn."

den heiligen zwölf Nächten oder Loostagen, d. h. vom Weihnachtsabend bis
zum Abend des Dreikönigstags, durch Umwinden mit Strohseilen fruchtbar
zu machen. In Schlesien erstrebt man den gleichen Zweck dadurch, daß man
am Sylvesterabend in ihre Zweige hinein schießt, in Mecklenburg steckt man
an demselben Abend ein Geldstück in einen Spalt ihrer Rinde. In Hessen
wird ein junger zum ersten Male tragender Baum fruchtbar gemacht, wenn
man seine Früchte von einem noch auf dem Arme getragenen Kinde oder
mindestens von einem Kinde unter sieben Jahren abpflücken läßt. In der Alt¬
mark bewirkt man dasselbe, wenn man die Aepfel oder Birnen in einen recht großen
Sack pflückt und einige davon am Baume läßt. Werden in Schlesien die
ersten Früchte gestohlen, so trägt der verstimmte Baum ganze sieben Jahre
nicht mehr. Wenn in der Wetterau auf einem Gehöft der Hofhund stirbt,
so muß man ihn unter einem Obstbaum des Gartens begraben, da derselbe
dann sehr reichlich trägt, eine Regel, die auch in Schlesien gilt.

So ist denn die Zeit der Pflege von Feld und Garten vergangen.
Mancherlei andere Regeln, oft sinnreich, bisweilen sinnlos, hatte der Alt¬
gläubige noch zu beobachten; denn groß ist in den Kreisen, wo die Rocken¬
philosophie der guten alten Zeit noch das Regiment führt, das Kapitel von
dem, was man soll und nicht soll. Er hat sie befolgt, treu und sorgfältig,
wie es ihm gelehrt worden, wenn auch nicht mit dem vollen Glauben an sie
wie seine Väter. Der gewissenhaft angewandte Zauber hat seine Wirkung
gethan, die gewissenhafte Arbeit mit Pflug und Hacke noch bessere, der Himmel
mit Sonne und Regen, je nach des Jahres Art, die beste. Die Ernte ist da,
um den Arbeitern ihren Lohn zu reichen, und auch sie ist mit einem Kranze
von Bräuchen umgeben, die in Süddeutschland und Norddeutschland im
Wesentlichen verwandt sind und hier wie dort mehr oder minder deutlich auf
die Zeit zurückweisen, wo man noch Wuotan und der Erdmutter Herke
opferte.

Wir heben von diesen Sitten der Erntezeit vor allem die hervor, die sich
auf die Behandlung bezieht, welcher der letzten Garbe auf dem Stoppelfelde
zu Theil wird. Die älteste Gestalt dieses Gebrauches finden wir in Nord¬
deutschland. In Mecklenburg und der Mark läßt man (ließ man wenigstens
noch vor einigen Jahrzehnten) bei der Roggenernte einen Theil des Getreides,
der oben zusammengebunden wird, auf dem Felde stehen. Um diesen Getreide-
büschel, den man mit Bier besprengt, sammeln sich nach vollbrachter Arbeit
die Schnitter, nehmen die Hüte ab. richten die Sensen aufwärts und rufen:


„Wode. Wode
Hat dinen Päre nu Foder,
Nu Distel unde Dorn
Tom andern Jahr beler Korn."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/65>, abgerufen am 31.05.2024.