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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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der Scheuntenne. Jede führt außer ihrem Geräth und Werkzeug einen Schatz
alter Lieder mit sich, und wenn die Arbeit einmal im Gange ist, schallen zu
dem taktmäßigen Geklapper der Schwingen Jauchzen und Gesang vom
Morgen bis in die Nacht hinein. In einzelnen Pausen werden eigenthüm¬
liche Gerichte und Getränke gereicht, bisweilen auch alte Spiele vorgenommen,
worauf es wieder an die Arbeit geht -- nichts von alledem geschieht nach
Zufall oder Belieben. Alles nach dem Herkommen und bestimmtem Ritus,
als wenn es. wie einst, im gewissen Sinne einer heiligen Handlung gälte.

Nachdem die Schwingerinnen sich vor ihren Schwingstöcken in Reihen
geordnet haben, die klappernde Arbeit ihren Anfang genommen hat und die
Zungen durch den reichlich gespendeten Anisbranntwein gelöst sind, wird der
Schwingtag mit einem feierlichen Liede in Molltönen eröffnet, welches mit
folgender Strophe anhebt:


"Wo geht sich denn der Mond auf?
Blau, blau Blümelein!
Ober'in Lindenbaum, da geht er auf.
Blumen im Thal, Mädchen im Saal!
O Du tapfre Nose!"

Das blaue Blümelein ist die Flachsblüthe. Die Strophe wird so viele Male
wiederholt, als Sängerinnen vorhanden sind, und jede Wiederholung bezeichnet
das Haus einer derselben als Ausgangsstelle des Mondes. Dann folgen die
andern hergebrachten Lieder, die alle in Moll gehen, meist rasch bewegt sind
und gewöhnlich erotischen Inhalt haben oder einen Balladenstoff behandeln.
Manche unter denselben mögen mehrere hundert Jahre alt sein, wenn man
nach den wenigen Reimen, die sie haben, und nach den Alliterationen, mit
denen sie durchwebt sind, schließen darf. Dahin gehört u. A. die Ballade:
"Zu Engelheim ein Lindenbaum", die nur an zwei Stellen Reime hat und
die bekannte Geschichte von Eginhard und Emma, ohne die Liebenden zu
nennen, erzählt. Andere alte und merkwürdige Schwingtagslteder sind: das
vom "Abendreuter" (Abenteurer), einem Grafensohne aus Straßburg, der seine
von den Heiden geraubte Schwester sieben Jahre lang in aller Welt sucht
und sie zuletzt als Dienstmagd in einer Schenke am Rheine findet, dann das
vom Pfalzgrafen Heinrich dem Wüthigen, der seine Gemahlin erschlug, und
das von der unschuldig gesenkten und schließlich wieder zu Ehren gebrachten
Magd zu Frankfurt, die der Dichter der Ballade am Galgen von Engeln
behütet und mit Speise und Trank versehen werden läßt. So folgt ein Lied
dem andern, bald wird ein ernstes, bald ein heiteres angestimmt, bis wieder
ein auf den Flachs bezügliches beginnt. Die Schwingerinnen singen dann
gewöhnlich:


Grenzvoten IV. 1876. 9

der Scheuntenne. Jede führt außer ihrem Geräth und Werkzeug einen Schatz
alter Lieder mit sich, und wenn die Arbeit einmal im Gange ist, schallen zu
dem taktmäßigen Geklapper der Schwingen Jauchzen und Gesang vom
Morgen bis in die Nacht hinein. In einzelnen Pausen werden eigenthüm¬
liche Gerichte und Getränke gereicht, bisweilen auch alte Spiele vorgenommen,
worauf es wieder an die Arbeit geht — nichts von alledem geschieht nach
Zufall oder Belieben. Alles nach dem Herkommen und bestimmtem Ritus,
als wenn es. wie einst, im gewissen Sinne einer heiligen Handlung gälte.

Nachdem die Schwingerinnen sich vor ihren Schwingstöcken in Reihen
geordnet haben, die klappernde Arbeit ihren Anfang genommen hat und die
Zungen durch den reichlich gespendeten Anisbranntwein gelöst sind, wird der
Schwingtag mit einem feierlichen Liede in Molltönen eröffnet, welches mit
folgender Strophe anhebt:


„Wo geht sich denn der Mond auf?
Blau, blau Blümelein!
Ober'in Lindenbaum, da geht er auf.
Blumen im Thal, Mädchen im Saal!
O Du tapfre Nose!"

Das blaue Blümelein ist die Flachsblüthe. Die Strophe wird so viele Male
wiederholt, als Sängerinnen vorhanden sind, und jede Wiederholung bezeichnet
das Haus einer derselben als Ausgangsstelle des Mondes. Dann folgen die
andern hergebrachten Lieder, die alle in Moll gehen, meist rasch bewegt sind
und gewöhnlich erotischen Inhalt haben oder einen Balladenstoff behandeln.
Manche unter denselben mögen mehrere hundert Jahre alt sein, wenn man
nach den wenigen Reimen, die sie haben, und nach den Alliterationen, mit
denen sie durchwebt sind, schließen darf. Dahin gehört u. A. die Ballade:
»Zu Engelheim ein Lindenbaum", die nur an zwei Stellen Reime hat und
die bekannte Geschichte von Eginhard und Emma, ohne die Liebenden zu
nennen, erzählt. Andere alte und merkwürdige Schwingtagslteder sind: das
vom „Abendreuter" (Abenteurer), einem Grafensohne aus Straßburg, der seine
von den Heiden geraubte Schwester sieben Jahre lang in aller Welt sucht
und sie zuletzt als Dienstmagd in einer Schenke am Rheine findet, dann das
vom Pfalzgrafen Heinrich dem Wüthigen, der seine Gemahlin erschlug, und
das von der unschuldig gesenkten und schließlich wieder zu Ehren gebrachten
Magd zu Frankfurt, die der Dichter der Ballade am Galgen von Engeln
behütet und mit Speise und Trank versehen werden läßt. So folgt ein Lied
dem andern, bald wird ein ernstes, bald ein heiteres angestimmt, bis wieder
ein auf den Flachs bezügliches beginnt. Die Schwingerinnen singen dann
gewöhnlich:


Grenzvoten IV. 1876. 9
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/69>, abgerufen am 31.05.2024.