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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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schen und drückenden politischen Zuständen geworden, so verwandelte sich der
zunächst überhaupt als siegender Held gedachte Frühling in einen gefeierten,
stets treffenden Bogenschützen, und so ist u. A. der Apfelschuß in die Sage
gekommen, bis dieselbe unter verschiedenen Völkern arischen Stammes und
zwar schon Jahrhunderte vor der Zeit, in die man Tell und Geßler
versetzt, mehr oder minder die Gestalt angenommen hatte, in der sie diese
beiden zu Helden hat. In Folgendem geben wir nach Rochholz Beispiele
solcher der Tellssage zeitlich weit vorausgehender Erzählungen.

Sarpedon, ein griechischer Heros, wurde als Kind zum Schußziele hin¬
gestellt und ihm ein Ring von der Brust geschossen, eine That, welche die
Erwerbung der Krone von Lykien zur Folge hatte. Akkon von Kreta sieht,
wie sein kleiner Sohn Phaleros von einem Drachen überfallen und umstrickt
ist, nimmt Bogen und Pfeil, zielt durch die Umringelungen und trifft über
dem Kopfe des Knaben in den Rachen des Ungeheuers. Der persische Dichter
Farid Uddin Attar erzählt in seinem 1170 verfaßten Gedichte "Die Sprache
der Vögel": "Ein König hatte einen Lieblingssclaven, diesem legte er einen
Apfel auf den Kopf, schoß darnach mit Pfeilen und spaltete den Apfel
stets, der Sklave aber war während dessen vor Furcht krank."

Die nordische Wilkinasage berichtet: Wieland, der kunstreiche Schmied,
wurde vom Schwedenkönige Nidung gefangen genommen, seiner Schätze beraubt,
angehalten, als Knecht für die königliche Schatzkammer zu arbeiten, und, als
man sein Entweichen zu fürchten begann, gelähmt. Er entwich später doch
vermittelst der goldnen Flügel, die er sich in der Stille geschmiedet hatte.
Inzwischen hatte er seinen Bruder Eigil, den berühmtesten Bogenschützen, von
seiner Gefangenschaft benachrichtigt, und dieser erschien an Nidungs Hofe.
Er wurde dem Anscheine nach gut aufgenommen; denn sein Ruf war hier
wohlbekannt, allein er mußte schwören, des Bruders Schmach nicht rächen
zu wollen, und hatte alsbald eine Probe seiner Bogenfertigkett abzulegen,
indem er seinem dreijährigen Sohne Orendel einen Apfel vom Haupte schießen
sollte, den Nidung eigenhändig dem Kinde auf's Haupt legte. Der Schütze
sollte weder zur Rechten noch zur Linken, noch über den Apfel weg, sondern
allein nach letzterem zielen und nur einen Pfeil abschießen. Den Knaben zu
treffen war ihm nicht verboten, weil man wußte, daß er dies schon selbst zu
vermeiden bemüht sein werde. Eigil verweigerte erst den Schuß, unterzog sich
aber, als man ihm mit dem Schicksal seines Bruders drohte, dem Befehle.
Doch nahm er nun drei Pfeile aus dem Köcher, worauf er den einen an
die Sehne legte und den Apfel mitten durchschoß. Dieser Meisterschuß ist
lange gepriesen worden, auch der König bewunderte ihn sehr. Doch richtete
er bald die Frage an den Schützen, wozu er drei Pfeile aus dem Köcher ge¬
nommen habe, da ihm doch nur erlaubt worden sei. einen zu verschießen.


schen und drückenden politischen Zuständen geworden, so verwandelte sich der
zunächst überhaupt als siegender Held gedachte Frühling in einen gefeierten,
stets treffenden Bogenschützen, und so ist u. A. der Apfelschuß in die Sage
gekommen, bis dieselbe unter verschiedenen Völkern arischen Stammes und
zwar schon Jahrhunderte vor der Zeit, in die man Tell und Geßler
versetzt, mehr oder minder die Gestalt angenommen hatte, in der sie diese
beiden zu Helden hat. In Folgendem geben wir nach Rochholz Beispiele
solcher der Tellssage zeitlich weit vorausgehender Erzählungen.

Sarpedon, ein griechischer Heros, wurde als Kind zum Schußziele hin¬
gestellt und ihm ein Ring von der Brust geschossen, eine That, welche die
Erwerbung der Krone von Lykien zur Folge hatte. Akkon von Kreta sieht,
wie sein kleiner Sohn Phaleros von einem Drachen überfallen und umstrickt
ist, nimmt Bogen und Pfeil, zielt durch die Umringelungen und trifft über
dem Kopfe des Knaben in den Rachen des Ungeheuers. Der persische Dichter
Farid Uddin Attar erzählt in seinem 1170 verfaßten Gedichte „Die Sprache
der Vögel": „Ein König hatte einen Lieblingssclaven, diesem legte er einen
Apfel auf den Kopf, schoß darnach mit Pfeilen und spaltete den Apfel
stets, der Sklave aber war während dessen vor Furcht krank."

Die nordische Wilkinasage berichtet: Wieland, der kunstreiche Schmied,
wurde vom Schwedenkönige Nidung gefangen genommen, seiner Schätze beraubt,
angehalten, als Knecht für die königliche Schatzkammer zu arbeiten, und, als
man sein Entweichen zu fürchten begann, gelähmt. Er entwich später doch
vermittelst der goldnen Flügel, die er sich in der Stille geschmiedet hatte.
Inzwischen hatte er seinen Bruder Eigil, den berühmtesten Bogenschützen, von
seiner Gefangenschaft benachrichtigt, und dieser erschien an Nidungs Hofe.
Er wurde dem Anscheine nach gut aufgenommen; denn sein Ruf war hier
wohlbekannt, allein er mußte schwören, des Bruders Schmach nicht rächen
zu wollen, und hatte alsbald eine Probe seiner Bogenfertigkett abzulegen,
indem er seinem dreijährigen Sohne Orendel einen Apfel vom Haupte schießen
sollte, den Nidung eigenhändig dem Kinde auf's Haupt legte. Der Schütze
sollte weder zur Rechten noch zur Linken, noch über den Apfel weg, sondern
allein nach letzterem zielen und nur einen Pfeil abschießen. Den Knaben zu
treffen war ihm nicht verboten, weil man wußte, daß er dies schon selbst zu
vermeiden bemüht sein werde. Eigil verweigerte erst den Schuß, unterzog sich
aber, als man ihm mit dem Schicksal seines Bruders drohte, dem Befehle.
Doch nahm er nun drei Pfeile aus dem Köcher, worauf er den einen an
die Sehne legte und den Apfel mitten durchschoß. Dieser Meisterschuß ist
lange gepriesen worden, auch der König bewunderte ihn sehr. Doch richtete
er bald die Frage an den Schützen, wozu er drei Pfeile aus dem Köcher ge¬
nommen habe, da ihm doch nur erlaubt worden sei. einen zu verschießen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/87>, abgerufen am 31.05.2024.