Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

schen zu allen Thorheiten fähig. Das Tollste aber, was auf wissenschaftlichem
Gebiet in Frankreich vorgekommen ist, hat ein sogenannter französischer Gelehrter,
ein Historiker von Fach, ein gewisser Herr Victor de Saint-Genis, der sich
als Correspondent des Ministeriums für historische Arbeiten als Laureat des
Instituts von Frankreich, als Officier des Saint Maurice- und des Saint
Lazare - Ordens von Italien u. f. w. einführt, in seinem neuesten Werk ge¬
leistet, welches folgenden für Franzosen äußerst verführerischen Titel führt:
"Der Erbfeind oder die germanischen Einfülle in Frankreich und das durch
Preußen in seinen Grenzen berichtigte Europa, mit drei Karten." Wenn wir
in einem früheren Artikel über die Ttssot'schen Schmähschriften*) die Ansicht
verfochten, daß es vor allem schnöde Gewinnsucht sein müsse, die diesen Herrn
zu seiner unsaubern Arbeit begeistert habe, so haben wir hinsichtlich des
Herrn de Saint-Genis nicht den geringsten Grund, an seinem echten, über¬
zeugungstreuen, untilgbaren, bis zum Wahnwitz gesteigerten Haß zu zweifeln,
denn nur ein solcher konnte ihn zu einer Geschichtsfälschung veranlassen, wie
sie frecher kaum erdacht, wie sie unverschämter und cousequenter kaum von
Jesuiten ins Werk gesetzt werden kann.

Herr de Saint-Genis will nämlich nichts Geringeres, als die falsche
Legende von dem französischen Ehrgeiz zerstören, er will beweisen, daß nicht
Frankreich der Erbfeind Deutschlands sei, sondern daß seit uralter Zeit das
Umgekehrte der Fall sei: daß Deutschland 28 Mal, und davon 27 Mal ohne
jede Berechtigung, plündernd und mordbrennend in Frankreich eingefallen
sei, die kleineren Einfälle gar nicht mitgezählt. In seiner Einleitung, die
äußerst characteristtsch für den Herrn Verfasser, für sein Werk und für das
heutige französische Publicum ist, macht er dem französischen Leser zunächst den
Vorwurf aus seiner spanischen Unbekümmertheit, aus seiner afrikanischen
Erstarrung. "Unsere Unglücksfälle", so ruft er in seiner bilderreichen Sprache
aus, "scheinen nur die sociale Epidermis äußerlich gestreift zu haben, sie haben
keine Wunde gegeben, sie haben die Rasse nicht aufgerüttelt. Aber habt
Acht! Bis jetzt haben wir nach den Ereignissen geurtheilt, es ist Zeit unsere
Meinung nach der Gerechtigkeit zu messen und nicht eher seine Schlüsse zu
ziehen, als bis man überlegt hat." (Nebenbei ein schönes Compliment für
seine Herren Compatrioten.) "Doch kann man das verlangen von einer Ge¬
sellschaft, die sich in Zersetzung befindet? Wenn man, in seiner Existenz
bedroht, nicht einmal des nächsten Tages gewiß ist, kann man sich dann um
das Studium (er meint hier zweifelsohne das historische) bekümmern?
Aber doch halte ich es für erlaubt, euch zuzurufen: Habt Acht! der Abgrund
ist vor euern Füßen. Ergreift dieses Tau, oder die Fluth schwemmt euch



') GvcnzboKn II. 401. 1870. S. . . .

schen zu allen Thorheiten fähig. Das Tollste aber, was auf wissenschaftlichem
Gebiet in Frankreich vorgekommen ist, hat ein sogenannter französischer Gelehrter,
ein Historiker von Fach, ein gewisser Herr Victor de Saint-Genis, der sich
als Correspondent des Ministeriums für historische Arbeiten als Laureat des
Instituts von Frankreich, als Officier des Saint Maurice- und des Saint
Lazare - Ordens von Italien u. f. w. einführt, in seinem neuesten Werk ge¬
leistet, welches folgenden für Franzosen äußerst verführerischen Titel führt:
„Der Erbfeind oder die germanischen Einfülle in Frankreich und das durch
Preußen in seinen Grenzen berichtigte Europa, mit drei Karten." Wenn wir
in einem früheren Artikel über die Ttssot'schen Schmähschriften*) die Ansicht
verfochten, daß es vor allem schnöde Gewinnsucht sein müsse, die diesen Herrn
zu seiner unsaubern Arbeit begeistert habe, so haben wir hinsichtlich des
Herrn de Saint-Genis nicht den geringsten Grund, an seinem echten, über¬
zeugungstreuen, untilgbaren, bis zum Wahnwitz gesteigerten Haß zu zweifeln,
denn nur ein solcher konnte ihn zu einer Geschichtsfälschung veranlassen, wie
sie frecher kaum erdacht, wie sie unverschämter und cousequenter kaum von
Jesuiten ins Werk gesetzt werden kann.

Herr de Saint-Genis will nämlich nichts Geringeres, als die falsche
Legende von dem französischen Ehrgeiz zerstören, er will beweisen, daß nicht
Frankreich der Erbfeind Deutschlands sei, sondern daß seit uralter Zeit das
Umgekehrte der Fall sei: daß Deutschland 28 Mal, und davon 27 Mal ohne
jede Berechtigung, plündernd und mordbrennend in Frankreich eingefallen
sei, die kleineren Einfälle gar nicht mitgezählt. In seiner Einleitung, die
äußerst characteristtsch für den Herrn Verfasser, für sein Werk und für das
heutige französische Publicum ist, macht er dem französischen Leser zunächst den
Vorwurf aus seiner spanischen Unbekümmertheit, aus seiner afrikanischen
Erstarrung. „Unsere Unglücksfälle", so ruft er in seiner bilderreichen Sprache
aus, „scheinen nur die sociale Epidermis äußerlich gestreift zu haben, sie haben
keine Wunde gegeben, sie haben die Rasse nicht aufgerüttelt. Aber habt
Acht! Bis jetzt haben wir nach den Ereignissen geurtheilt, es ist Zeit unsere
Meinung nach der Gerechtigkeit zu messen und nicht eher seine Schlüsse zu
ziehen, als bis man überlegt hat." (Nebenbei ein schönes Compliment für
seine Herren Compatrioten.) „Doch kann man das verlangen von einer Ge¬
sellschaft, die sich in Zersetzung befindet? Wenn man, in seiner Existenz
bedroht, nicht einmal des nächsten Tages gewiß ist, kann man sich dann um
das Studium (er meint hier zweifelsohne das historische) bekümmern?
Aber doch halte ich es für erlaubt, euch zuzurufen: Habt Acht! der Abgrund
ist vor euern Füßen. Ergreift dieses Tau, oder die Fluth schwemmt euch



') GvcnzboKn II. 401. 1870. S. . . .
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0009" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136648"/>
          <p xml:id="ID_16" prev="#ID_15"> schen zu allen Thorheiten fähig. Das Tollste aber, was auf wissenschaftlichem<lb/>
Gebiet in Frankreich vorgekommen ist, hat ein sogenannter französischer Gelehrter,<lb/>
ein Historiker von Fach, ein gewisser Herr Victor de Saint-Genis, der sich<lb/>
als Correspondent des Ministeriums für historische Arbeiten als Laureat des<lb/>
Instituts von Frankreich, als Officier des Saint Maurice- und des Saint<lb/>
Lazare - Ordens von Italien u. f. w. einführt, in seinem neuesten Werk ge¬<lb/>
leistet, welches folgenden für Franzosen äußerst verführerischen Titel führt:<lb/>
&#x201E;Der Erbfeind oder die germanischen Einfülle in Frankreich und das durch<lb/>
Preußen in seinen Grenzen berichtigte Europa, mit drei Karten." Wenn wir<lb/>
in einem früheren Artikel über die Ttssot'schen Schmähschriften*) die Ansicht<lb/>
verfochten, daß es vor allem schnöde Gewinnsucht sein müsse, die diesen Herrn<lb/>
zu seiner unsaubern Arbeit begeistert habe, so haben wir hinsichtlich des<lb/>
Herrn de Saint-Genis nicht den geringsten Grund, an seinem echten, über¬<lb/>
zeugungstreuen, untilgbaren, bis zum Wahnwitz gesteigerten Haß zu zweifeln,<lb/>
denn nur ein solcher konnte ihn zu einer Geschichtsfälschung veranlassen, wie<lb/>
sie frecher kaum erdacht, wie sie unverschämter und cousequenter kaum von<lb/>
Jesuiten ins Werk gesetzt werden kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_17" next="#ID_18"> Herr de Saint-Genis will nämlich nichts Geringeres, als die falsche<lb/>
Legende von dem französischen Ehrgeiz zerstören, er will beweisen, daß nicht<lb/>
Frankreich der Erbfeind Deutschlands sei, sondern daß seit uralter Zeit das<lb/>
Umgekehrte der Fall sei: daß Deutschland 28 Mal, und davon 27 Mal ohne<lb/>
jede Berechtigung, plündernd und mordbrennend in Frankreich eingefallen<lb/>
sei, die kleineren Einfälle gar nicht mitgezählt. In seiner Einleitung, die<lb/>
äußerst characteristtsch für den Herrn Verfasser, für sein Werk und für das<lb/>
heutige französische Publicum ist, macht er dem französischen Leser zunächst den<lb/>
Vorwurf aus seiner spanischen Unbekümmertheit, aus seiner afrikanischen<lb/>
Erstarrung. &#x201E;Unsere Unglücksfälle", so ruft er in seiner bilderreichen Sprache<lb/>
aus, &#x201E;scheinen nur die sociale Epidermis äußerlich gestreift zu haben, sie haben<lb/>
keine Wunde gegeben, sie haben die Rasse nicht aufgerüttelt. Aber habt<lb/>
Acht! Bis jetzt haben wir nach den Ereignissen geurtheilt, es ist Zeit unsere<lb/>
Meinung nach der Gerechtigkeit zu messen und nicht eher seine Schlüsse zu<lb/>
ziehen, als bis man überlegt hat." (Nebenbei ein schönes Compliment für<lb/>
seine Herren Compatrioten.) &#x201E;Doch kann man das verlangen von einer Ge¬<lb/>
sellschaft, die sich in Zersetzung befindet? Wenn man, in seiner Existenz<lb/>
bedroht, nicht einmal des nächsten Tages gewiß ist, kann man sich dann um<lb/>
das Studium (er meint hier zweifelsohne das historische) bekümmern?<lb/>
Aber doch halte ich es für erlaubt, euch zuzurufen: Habt Acht! der Abgrund<lb/>
ist vor euern Füßen.  Ergreift dieses Tau, oder die Fluth schwemmt euch</p><lb/>
          <note xml:id="FID_4" place="foot"> ') GvcnzboKn II. 401. 1870. S. . . .</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0009] schen zu allen Thorheiten fähig. Das Tollste aber, was auf wissenschaftlichem Gebiet in Frankreich vorgekommen ist, hat ein sogenannter französischer Gelehrter, ein Historiker von Fach, ein gewisser Herr Victor de Saint-Genis, der sich als Correspondent des Ministeriums für historische Arbeiten als Laureat des Instituts von Frankreich, als Officier des Saint Maurice- und des Saint Lazare - Ordens von Italien u. f. w. einführt, in seinem neuesten Werk ge¬ leistet, welches folgenden für Franzosen äußerst verführerischen Titel führt: „Der Erbfeind oder die germanischen Einfülle in Frankreich und das durch Preußen in seinen Grenzen berichtigte Europa, mit drei Karten." Wenn wir in einem früheren Artikel über die Ttssot'schen Schmähschriften*) die Ansicht verfochten, daß es vor allem schnöde Gewinnsucht sein müsse, die diesen Herrn zu seiner unsaubern Arbeit begeistert habe, so haben wir hinsichtlich des Herrn de Saint-Genis nicht den geringsten Grund, an seinem echten, über¬ zeugungstreuen, untilgbaren, bis zum Wahnwitz gesteigerten Haß zu zweifeln, denn nur ein solcher konnte ihn zu einer Geschichtsfälschung veranlassen, wie sie frecher kaum erdacht, wie sie unverschämter und cousequenter kaum von Jesuiten ins Werk gesetzt werden kann. Herr de Saint-Genis will nämlich nichts Geringeres, als die falsche Legende von dem französischen Ehrgeiz zerstören, er will beweisen, daß nicht Frankreich der Erbfeind Deutschlands sei, sondern daß seit uralter Zeit das Umgekehrte der Fall sei: daß Deutschland 28 Mal, und davon 27 Mal ohne jede Berechtigung, plündernd und mordbrennend in Frankreich eingefallen sei, die kleineren Einfälle gar nicht mitgezählt. In seiner Einleitung, die äußerst characteristtsch für den Herrn Verfasser, für sein Werk und für das heutige französische Publicum ist, macht er dem französischen Leser zunächst den Vorwurf aus seiner spanischen Unbekümmertheit, aus seiner afrikanischen Erstarrung. „Unsere Unglücksfälle", so ruft er in seiner bilderreichen Sprache aus, „scheinen nur die sociale Epidermis äußerlich gestreift zu haben, sie haben keine Wunde gegeben, sie haben die Rasse nicht aufgerüttelt. Aber habt Acht! Bis jetzt haben wir nach den Ereignissen geurtheilt, es ist Zeit unsere Meinung nach der Gerechtigkeit zu messen und nicht eher seine Schlüsse zu ziehen, als bis man überlegt hat." (Nebenbei ein schönes Compliment für seine Herren Compatrioten.) „Doch kann man das verlangen von einer Ge¬ sellschaft, die sich in Zersetzung befindet? Wenn man, in seiner Existenz bedroht, nicht einmal des nächsten Tages gewiß ist, kann man sich dann um das Studium (er meint hier zweifelsohne das historische) bekümmern? Aber doch halte ich es für erlaubt, euch zuzurufen: Habt Acht! der Abgrund ist vor euern Füßen. Ergreift dieses Tau, oder die Fluth schwemmt euch ') GvcnzboKn II. 401. 1870. S. . . .

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/9
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/9>, abgerufen am 16.05.2024.