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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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mehr und nur ab und zu bricht der verhaltene Groll in unbewachten Mo¬
menten an einzelnen Punkten mit urwüchsiger Gewalt hervor, um ebenso
plötzlich wie auf ein Zauberwort hin zu verstummen. Wir kennen dieses
Zauberwort, es heißt Geduld, abwarten, bis der große Moment gekommen
ist. In diesem Gedanken ist die sonst so vielfach gespaltene Nation einig;
in diesem Gedanken trägt sie willig die großen Lasten, die ihr das Staats¬
wesen, die ihr der beschwerliche Heeresdienst auferlegt, in ihm hat sie
ihre Arbeit mit rastloser Thätigkeit und seltener Energie wieder aufgenommen,
in ihm findet sie einen Trost über die Unglücksfälle der Schreckensjahre, wie
man die Kriegsjahre von 70 und 71 zu nennen beliebt. Je weniger aber
aus Klugheitsrücksichten der Haß sich äußern darf, um so tiefer frißt er sich
ein, um so intensiver wird er, und nicht nur die unlautern Mächte der
vaticanischen Religion führen ihm immer neue Nahrung zu, denn das ist
anderswo auch nicht anders; nein auch die Wissenschaft, die doch berufen ist,
auf lichten Höhen zu wandeln, und die vor allem dazu angethan erscheint,
zwei gleich, wenn auch verschieden begabte Culturvölker, die Geschichte und
Abstammung zu Verwandten und Nachbarn gemacht hat, auszusöhnen, wird
von unwürdigen Jüngern in den Staub der tagespolitischen Vexationen
herabgezogen und muß ihre Waffen, die sonst nur zum Heil der Menschheit
gegen die finstern Mächte der Dummheit und Unwissenheit gewandt werden,
zur Herbeiführung eines brudermörderischer Kampfes zwischen zwei Nationen
mißbrauchen lassen, die sich in gleicher Weise um sie verdient gemacht haben.

Die Revue ach Ävux moväes, gewiß ein Blatt, dessen wissenschaftlicher
Charakter über allen Zweifel erhaben ist, hat sich dennoch bereit gefunden,
einem Artikel von Quatrefages, der mit ernster Miene der Welt erzählte,
daß die heutigen Preußen keine Deutschen, sondern Finnen seien, und vielen
andern ihre Spalten zu öffnen, die dazu angethan waren, den Gegensatz zwi¬
schen Deutschland und Frankreich und zwar ganz ihren frühern Intentionen ent¬
gegen zu schärfen.

Es wäre fast eine Beleidigung für die Revue, wenn wir hier gleich
hinterher die Sudelschrtften eines Tissot in irgend einer Beziehung zu ihr
erwähnen wollten, aber doch dürfen wir die Frage nicht unterdrücken: warum
hat das renommirte Blatt, dessen Aufgabe es vor allem gewesen wäre, auch
nicht ein Wort gefunden, um das französische Publicum über den gänzlichen
Unwerth jener Schriften aufzuklären? Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir
annehmen, daß es der Deutschenhaß gewesen ist, der ihr gegen besseres Wissen
Schweigen auferlegt hat.

Ja sagen wir es rund heraus, man darf sich eigentlich über nichts mehr
wundern, was in unserm Nachbarlande passirt, denn der Haß auf die Spitze
getrieben macht blind wie die Liebe und macht auch sonst vernünftige Mer-


mehr und nur ab und zu bricht der verhaltene Groll in unbewachten Mo¬
menten an einzelnen Punkten mit urwüchsiger Gewalt hervor, um ebenso
plötzlich wie auf ein Zauberwort hin zu verstummen. Wir kennen dieses
Zauberwort, es heißt Geduld, abwarten, bis der große Moment gekommen
ist. In diesem Gedanken ist die sonst so vielfach gespaltene Nation einig;
in diesem Gedanken trägt sie willig die großen Lasten, die ihr das Staats¬
wesen, die ihr der beschwerliche Heeresdienst auferlegt, in ihm hat sie
ihre Arbeit mit rastloser Thätigkeit und seltener Energie wieder aufgenommen,
in ihm findet sie einen Trost über die Unglücksfälle der Schreckensjahre, wie
man die Kriegsjahre von 70 und 71 zu nennen beliebt. Je weniger aber
aus Klugheitsrücksichten der Haß sich äußern darf, um so tiefer frißt er sich
ein, um so intensiver wird er, und nicht nur die unlautern Mächte der
vaticanischen Religion führen ihm immer neue Nahrung zu, denn das ist
anderswo auch nicht anders; nein auch die Wissenschaft, die doch berufen ist,
auf lichten Höhen zu wandeln, und die vor allem dazu angethan erscheint,
zwei gleich, wenn auch verschieden begabte Culturvölker, die Geschichte und
Abstammung zu Verwandten und Nachbarn gemacht hat, auszusöhnen, wird
von unwürdigen Jüngern in den Staub der tagespolitischen Vexationen
herabgezogen und muß ihre Waffen, die sonst nur zum Heil der Menschheit
gegen die finstern Mächte der Dummheit und Unwissenheit gewandt werden,
zur Herbeiführung eines brudermörderischer Kampfes zwischen zwei Nationen
mißbrauchen lassen, die sich in gleicher Weise um sie verdient gemacht haben.

Die Revue ach Ävux moväes, gewiß ein Blatt, dessen wissenschaftlicher
Charakter über allen Zweifel erhaben ist, hat sich dennoch bereit gefunden,
einem Artikel von Quatrefages, der mit ernster Miene der Welt erzählte,
daß die heutigen Preußen keine Deutschen, sondern Finnen seien, und vielen
andern ihre Spalten zu öffnen, die dazu angethan waren, den Gegensatz zwi¬
schen Deutschland und Frankreich und zwar ganz ihren frühern Intentionen ent¬
gegen zu schärfen.

Es wäre fast eine Beleidigung für die Revue, wenn wir hier gleich
hinterher die Sudelschrtften eines Tissot in irgend einer Beziehung zu ihr
erwähnen wollten, aber doch dürfen wir die Frage nicht unterdrücken: warum
hat das renommirte Blatt, dessen Aufgabe es vor allem gewesen wäre, auch
nicht ein Wort gefunden, um das französische Publicum über den gänzlichen
Unwerth jener Schriften aufzuklären? Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir
annehmen, daß es der Deutschenhaß gewesen ist, der ihr gegen besseres Wissen
Schweigen auferlegt hat.

Ja sagen wir es rund heraus, man darf sich eigentlich über nichts mehr
wundern, was in unserm Nachbarlande passirt, denn der Haß auf die Spitze
getrieben macht blind wie die Liebe und macht auch sonst vernünftige Mer-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/8>, abgerufen am 15.05.2024.