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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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unzutreffend ist die Behauptung, die nationalliberale Partei habe sich aufs
Neue um die Freundschaft der Fortschrittspartei beworben, sie habe die Er¬
innerung an die jüngste Vergangenheit auslöschen wollen, und was dergleichen
mehr ist. So wenig früher die erste Vieepräsidentenstelle der Fortschrittspartei
aus freunduachbarlicher Zuneigung eingeräumt ist, ebensowenig ist es jetzt ge¬
schehen; beide Male ist lediglich die Erwägung maßgebend gewesen, daß die
Fortschrittspartei -- vom Centrum abgesehen -- die zweitgrößte Partei des-
Hauses ist. Zu leugnen ist freilich uicht, daß, wenn dies überhaupt nöthig
gewesen wäre, auch ein gewichtiger Zweckmäßigkeitsgrund für die Belassung
der Fortschrittspartei in dem Posten hätte geltend gemacht werden können. Die
natioualliberale Partei hat keine Veranlassung, denjenigen Elementen der Fort¬
schrittspartei, welche dem Terrorismus der Heißsporne noch einigen Widerstand
leisten, die Position zu erschweren. Dies würde sie aber gethan haben, hätte
sie der Fortschrittspartei den ersten Vieeprüsidenteuposten versagt. --

Aufgabe der gegenwärtigen Session soll vorwiegend die Bndgetberathuug
sein. Das Expose, mit welchem der Finanzminister die Vorlegung des Etats
zu begleiten pflegt, durchklaug diesmal ein in Preußen seit langer Zeit un¬
gewohnter und wenig einschmeichelnder Ton. Sonst liebte Herr Camphausen,
mit freundlichem Lächeln das überquellende Füllhorn zu entleeren; hener flog
nnr selten ein kaum merkbarer Sonnenblick über das umwölkte Antlitz. Ueberall
steht es geschrieben: "die fetten Jahre sind vorüber." Aber noch ist kein Grund
zum Pessimismus. Wir kehre" zu normalen Zuständen zurück, sonst nichts.
Wenn die Stempelsteuer noch immer um ein Beträchtliches hinter dem Svll-
etat zurückbleibt, wenn der Ertrag der Eisenbahnen den Voranschlag nicht er¬
reicht, wenn die Bergwerke infolge der niedrigen Kohlenpreise weniger abwerfen,
so ist dagegen nicht zu übersehen, daß der Ertrag der directen Steuern den
Voranschlag überschreitet. Allerdings ist weise Sparsamkeit geboten; aber
nirgends liegt begründete Besorgniß vor, daß dieselbe das Maß des Ersprie߬
lichen überschreiten werde. Der im Verhältniß zu den Vorjahren sehr niedrige
Betrag des diesmaligen Extraordinarinms bedeutet uur scheinbar eine große
Reduction der Ausgaben sür neue Unternehmungen ; in Wahrheit erhöht sich
die in demselben vorgesehene Summe von ca. 20 Millionen durch "och vor-
handene Restbestände ans reichlich 70 Millionen. Wenn die Unsitte, dnrch
Hypertrophie des Extraordinarinms so kolossale Restbestände aufzuhäufen, bei
dieser Gelegenheit beseitigt wird, so ist das nur als ein Glück für unsere
Finanzwirthschaft zu betrachten.

Die erste Lesung des Etats, sonst ein Glanzpunkt der Sessionen, war
nüchtern und zum Theil herzlich unbedeutend. Mit gediegener Sachlichkeit be¬
leuchtete der nationalliberale Redner, Rickert, die Finanzlage. Schwarzsehe^


unzutreffend ist die Behauptung, die nationalliberale Partei habe sich aufs
Neue um die Freundschaft der Fortschrittspartei beworben, sie habe die Er¬
innerung an die jüngste Vergangenheit auslöschen wollen, und was dergleichen
mehr ist. So wenig früher die erste Vieepräsidentenstelle der Fortschrittspartei
aus freunduachbarlicher Zuneigung eingeräumt ist, ebensowenig ist es jetzt ge¬
schehen; beide Male ist lediglich die Erwägung maßgebend gewesen, daß die
Fortschrittspartei — vom Centrum abgesehen — die zweitgrößte Partei des-
Hauses ist. Zu leugnen ist freilich uicht, daß, wenn dies überhaupt nöthig
gewesen wäre, auch ein gewichtiger Zweckmäßigkeitsgrund für die Belassung
der Fortschrittspartei in dem Posten hätte geltend gemacht werden können. Die
natioualliberale Partei hat keine Veranlassung, denjenigen Elementen der Fort¬
schrittspartei, welche dem Terrorismus der Heißsporne noch einigen Widerstand
leisten, die Position zu erschweren. Dies würde sie aber gethan haben, hätte
sie der Fortschrittspartei den ersten Vieeprüsidenteuposten versagt. —

Aufgabe der gegenwärtigen Session soll vorwiegend die Bndgetberathuug
sein. Das Expose, mit welchem der Finanzminister die Vorlegung des Etats
zu begleiten pflegt, durchklaug diesmal ein in Preußen seit langer Zeit un¬
gewohnter und wenig einschmeichelnder Ton. Sonst liebte Herr Camphausen,
mit freundlichem Lächeln das überquellende Füllhorn zu entleeren; hener flog
nnr selten ein kaum merkbarer Sonnenblick über das umwölkte Antlitz. Ueberall
steht es geschrieben: „die fetten Jahre sind vorüber." Aber noch ist kein Grund
zum Pessimismus. Wir kehre» zu normalen Zuständen zurück, sonst nichts.
Wenn die Stempelsteuer noch immer um ein Beträchtliches hinter dem Svll-
etat zurückbleibt, wenn der Ertrag der Eisenbahnen den Voranschlag nicht er¬
reicht, wenn die Bergwerke infolge der niedrigen Kohlenpreise weniger abwerfen,
so ist dagegen nicht zu übersehen, daß der Ertrag der directen Steuern den
Voranschlag überschreitet. Allerdings ist weise Sparsamkeit geboten; aber
nirgends liegt begründete Besorgniß vor, daß dieselbe das Maß des Ersprie߬
lichen überschreiten werde. Der im Verhältniß zu den Vorjahren sehr niedrige
Betrag des diesmaligen Extraordinarinms bedeutet uur scheinbar eine große
Reduction der Ausgaben sür neue Unternehmungen ; in Wahrheit erhöht sich
die in demselben vorgesehene Summe von ca. 20 Millionen durch «och vor-
handene Restbestände ans reichlich 70 Millionen. Wenn die Unsitte, dnrch
Hypertrophie des Extraordinarinms so kolossale Restbestände aufzuhäufen, bei
dieser Gelegenheit beseitigt wird, so ist das nur als ein Glück für unsere
Finanzwirthschaft zu betrachten.

Die erste Lesung des Etats, sonst ein Glanzpunkt der Sessionen, war
nüchtern und zum Theil herzlich unbedeutend. Mit gediegener Sachlichkeit be¬
leuchtete der nationalliberale Redner, Rickert, die Finanzlage. Schwarzsehe^


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[0244] unzutreffend ist die Behauptung, die nationalliberale Partei habe sich aufs Neue um die Freundschaft der Fortschrittspartei beworben, sie habe die Er¬ innerung an die jüngste Vergangenheit auslöschen wollen, und was dergleichen mehr ist. So wenig früher die erste Vieepräsidentenstelle der Fortschrittspartei aus freunduachbarlicher Zuneigung eingeräumt ist, ebensowenig ist es jetzt ge¬ schehen; beide Male ist lediglich die Erwägung maßgebend gewesen, daß die Fortschrittspartei — vom Centrum abgesehen — die zweitgrößte Partei des- Hauses ist. Zu leugnen ist freilich uicht, daß, wenn dies überhaupt nöthig gewesen wäre, auch ein gewichtiger Zweckmäßigkeitsgrund für die Belassung der Fortschrittspartei in dem Posten hätte geltend gemacht werden können. Die natioualliberale Partei hat keine Veranlassung, denjenigen Elementen der Fort¬ schrittspartei, welche dem Terrorismus der Heißsporne noch einigen Widerstand leisten, die Position zu erschweren. Dies würde sie aber gethan haben, hätte sie der Fortschrittspartei den ersten Vieeprüsidenteuposten versagt. — Aufgabe der gegenwärtigen Session soll vorwiegend die Bndgetberathuug sein. Das Expose, mit welchem der Finanzminister die Vorlegung des Etats zu begleiten pflegt, durchklaug diesmal ein in Preußen seit langer Zeit un¬ gewohnter und wenig einschmeichelnder Ton. Sonst liebte Herr Camphausen, mit freundlichem Lächeln das überquellende Füllhorn zu entleeren; hener flog nnr selten ein kaum merkbarer Sonnenblick über das umwölkte Antlitz. Ueberall steht es geschrieben: „die fetten Jahre sind vorüber." Aber noch ist kein Grund zum Pessimismus. Wir kehre» zu normalen Zuständen zurück, sonst nichts. Wenn die Stempelsteuer noch immer um ein Beträchtliches hinter dem Svll- etat zurückbleibt, wenn der Ertrag der Eisenbahnen den Voranschlag nicht er¬ reicht, wenn die Bergwerke infolge der niedrigen Kohlenpreise weniger abwerfen, so ist dagegen nicht zu übersehen, daß der Ertrag der directen Steuern den Voranschlag überschreitet. Allerdings ist weise Sparsamkeit geboten; aber nirgends liegt begründete Besorgniß vor, daß dieselbe das Maß des Ersprie߬ lichen überschreiten werde. Der im Verhältniß zu den Vorjahren sehr niedrige Betrag des diesmaligen Extraordinarinms bedeutet uur scheinbar eine große Reduction der Ausgaben sür neue Unternehmungen ; in Wahrheit erhöht sich die in demselben vorgesehene Summe von ca. 20 Millionen durch «och vor- handene Restbestände ans reichlich 70 Millionen. Wenn die Unsitte, dnrch Hypertrophie des Extraordinarinms so kolossale Restbestände aufzuhäufen, bei dieser Gelegenheit beseitigt wird, so ist das nur als ein Glück für unsere Finanzwirthschaft zu betrachten. Die erste Lesung des Etats, sonst ein Glanzpunkt der Sessionen, war nüchtern und zum Theil herzlich unbedeutend. Mit gediegener Sachlichkeit be¬ leuchtete der nationalliberale Redner, Rickert, die Finanzlage. Schwarzsehe^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/244>, abgerufen am 14.06.2024.