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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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hältuisfe der Provinz empfehlen es, die Wahlen in erster Linie nach den drei
Regierungsbezirken zu betrachten.

Oberschlesien, repräsentirt durch den Regierungsbezirk Oppeln, wählte
vor dem Beginne des Kulturkampfes fast ausnahmslos gemäßigte Conservative,
Mitglieder der deutschen Reichspartei. Bei den Wahlen im Jahre 1871 zeigte
sich der staatsfeindliche Einfluß des Klerus dadurch, daß in den zwölf Wahl¬
bezirken bereits drei Mitglieder des Centrums gewählt werden, im Jahre
1874 wählte Oberschlesien a es t Centrumsmänner und vier Reichstreue (deutsche
Reichspartei), beider letzten Wahl wählte es elf Centrumsmänner und einen
Reichstreuen. Sehen wir nach den Erfolgen, so scheinen diese ein stetiges Fort¬
schreiten des Ultramontanismus zu constatiren, dennoch aber ist es unbestreit¬
bar, daß grade der Liberalismus in den letzten Jahren in Oberschlesien mehr
und mehr Boden gewonnen hat. Versuchen wir, diesen scheinbaren Widerspruch
zu lose". Die weitaus größte Masse der oberschlesischen Bevölkerung steht
leider auf einer außerordentlich tiefen Bildungsstufe, und an eine politische Ueber¬
zeugung ist bei Menschen nicht zu denken, die selbst des vernünftigen klaren
Denkens unfähig sind, denen auch das wirklich Gute und Nützliche mit Ge¬
walt oktroyirt werden muß. Diese ungebildeten Massen befinden sich in der
Hand eines fanatischen Klerus, der kein Mittel scheut, seine Zwecke zu erreichen
und die verblendeten Massen nach seinen Ideen zu lenken. Nur zu leicht wird
dies aber bei einer Bevölkerung werden, die man dadurch herdenweise zur Urne
und zur klerikalen Abstimmung treiben kann, daß man ihr erklärt, anders
wählen sei Sünde, und wer einem Reichsfreunde seine Stimme gebe, verfalle
unrettbar der ewigen Verdammniß. Diese Ansichten hat der Klerus durch un¬
ablässige agitatorische Thätigkeit, besonders durch Beeinflussung der Frauen,
denen man vorlog, die Liberalen beabsichtigten die Abschaffung der Ehe, im
Volke verbreitet. Im Beichtstuhl, von der Kanzel, durch Besuche in den Fa¬
milien, in Wahlversammlungen wurden diese schamlosen Lügen verbreitet und
leider geglaubt. Dem gegenüber ist zu verwundern, daß es die liberale
Partei in einzelnen Wahlkreisen auf mehr als die Hälfte der ultramontanen
Stimmen gebracht hat, steht doch den Reichstreuen kein anderes Mittel gegen¬
über den Lügen des Klerus zu Gebote, als durch Belehrung und Ermahnung ans die
Massen einzuwirken; daß diese Thätigkeit aber nur sehr langsam eine Bresche in
den Wall des mit Absicht großgezogenen Aberglaubens und der geistigen
Finsterniß legen kann, ist leicht begreiflich. Die agitatorische Thätigkeit der
liberalen Partei aber ist gegenüber der Rastlosigkeit des Klerus keineswegs
die intensive, die sie eigentlich sein müßte. Während die Gegenpartei das
ganze Jahr wühlt und hetzt, bequemen sich die Liberalen gewöhnlich erst
Wenige Tage vor der Wahl zur Agitation. Es war demnach nicht unbegreif-


hältuisfe der Provinz empfehlen es, die Wahlen in erster Linie nach den drei
Regierungsbezirken zu betrachten.

Oberschlesien, repräsentirt durch den Regierungsbezirk Oppeln, wählte
vor dem Beginne des Kulturkampfes fast ausnahmslos gemäßigte Conservative,
Mitglieder der deutschen Reichspartei. Bei den Wahlen im Jahre 1871 zeigte
sich der staatsfeindliche Einfluß des Klerus dadurch, daß in den zwölf Wahl¬
bezirken bereits drei Mitglieder des Centrums gewählt werden, im Jahre
1874 wählte Oberschlesien a es t Centrumsmänner und vier Reichstreue (deutsche
Reichspartei), beider letzten Wahl wählte es elf Centrumsmänner und einen
Reichstreuen. Sehen wir nach den Erfolgen, so scheinen diese ein stetiges Fort¬
schreiten des Ultramontanismus zu constatiren, dennoch aber ist es unbestreit¬
bar, daß grade der Liberalismus in den letzten Jahren in Oberschlesien mehr
und mehr Boden gewonnen hat. Versuchen wir, diesen scheinbaren Widerspruch
zu lose«. Die weitaus größte Masse der oberschlesischen Bevölkerung steht
leider auf einer außerordentlich tiefen Bildungsstufe, und an eine politische Ueber¬
zeugung ist bei Menschen nicht zu denken, die selbst des vernünftigen klaren
Denkens unfähig sind, denen auch das wirklich Gute und Nützliche mit Ge¬
walt oktroyirt werden muß. Diese ungebildeten Massen befinden sich in der
Hand eines fanatischen Klerus, der kein Mittel scheut, seine Zwecke zu erreichen
und die verblendeten Massen nach seinen Ideen zu lenken. Nur zu leicht wird
dies aber bei einer Bevölkerung werden, die man dadurch herdenweise zur Urne
und zur klerikalen Abstimmung treiben kann, daß man ihr erklärt, anders
wählen sei Sünde, und wer einem Reichsfreunde seine Stimme gebe, verfalle
unrettbar der ewigen Verdammniß. Diese Ansichten hat der Klerus durch un¬
ablässige agitatorische Thätigkeit, besonders durch Beeinflussung der Frauen,
denen man vorlog, die Liberalen beabsichtigten die Abschaffung der Ehe, im
Volke verbreitet. Im Beichtstuhl, von der Kanzel, durch Besuche in den Fa¬
milien, in Wahlversammlungen wurden diese schamlosen Lügen verbreitet und
leider geglaubt. Dem gegenüber ist zu verwundern, daß es die liberale
Partei in einzelnen Wahlkreisen auf mehr als die Hälfte der ultramontanen
Stimmen gebracht hat, steht doch den Reichstreuen kein anderes Mittel gegen¬
über den Lügen des Klerus zu Gebote, als durch Belehrung und Ermahnung ans die
Massen einzuwirken; daß diese Thätigkeit aber nur sehr langsam eine Bresche in
den Wall des mit Absicht großgezogenen Aberglaubens und der geistigen
Finsterniß legen kann, ist leicht begreiflich. Die agitatorische Thätigkeit der
liberalen Partei aber ist gegenüber der Rastlosigkeit des Klerus keineswegs
die intensive, die sie eigentlich sein müßte. Während die Gegenpartei das
ganze Jahr wühlt und hetzt, bequemen sich die Liberalen gewöhnlich erst
Wenige Tage vor der Wahl zur Agitation. Es war demnach nicht unbegreif-


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[0283] hältuisfe der Provinz empfehlen es, die Wahlen in erster Linie nach den drei Regierungsbezirken zu betrachten. Oberschlesien, repräsentirt durch den Regierungsbezirk Oppeln, wählte vor dem Beginne des Kulturkampfes fast ausnahmslos gemäßigte Conservative, Mitglieder der deutschen Reichspartei. Bei den Wahlen im Jahre 1871 zeigte sich der staatsfeindliche Einfluß des Klerus dadurch, daß in den zwölf Wahl¬ bezirken bereits drei Mitglieder des Centrums gewählt werden, im Jahre 1874 wählte Oberschlesien a es t Centrumsmänner und vier Reichstreue (deutsche Reichspartei), beider letzten Wahl wählte es elf Centrumsmänner und einen Reichstreuen. Sehen wir nach den Erfolgen, so scheinen diese ein stetiges Fort¬ schreiten des Ultramontanismus zu constatiren, dennoch aber ist es unbestreit¬ bar, daß grade der Liberalismus in den letzten Jahren in Oberschlesien mehr und mehr Boden gewonnen hat. Versuchen wir, diesen scheinbaren Widerspruch zu lose«. Die weitaus größte Masse der oberschlesischen Bevölkerung steht leider auf einer außerordentlich tiefen Bildungsstufe, und an eine politische Ueber¬ zeugung ist bei Menschen nicht zu denken, die selbst des vernünftigen klaren Denkens unfähig sind, denen auch das wirklich Gute und Nützliche mit Ge¬ walt oktroyirt werden muß. Diese ungebildeten Massen befinden sich in der Hand eines fanatischen Klerus, der kein Mittel scheut, seine Zwecke zu erreichen und die verblendeten Massen nach seinen Ideen zu lenken. Nur zu leicht wird dies aber bei einer Bevölkerung werden, die man dadurch herdenweise zur Urne und zur klerikalen Abstimmung treiben kann, daß man ihr erklärt, anders wählen sei Sünde, und wer einem Reichsfreunde seine Stimme gebe, verfalle unrettbar der ewigen Verdammniß. Diese Ansichten hat der Klerus durch un¬ ablässige agitatorische Thätigkeit, besonders durch Beeinflussung der Frauen, denen man vorlog, die Liberalen beabsichtigten die Abschaffung der Ehe, im Volke verbreitet. Im Beichtstuhl, von der Kanzel, durch Besuche in den Fa¬ milien, in Wahlversammlungen wurden diese schamlosen Lügen verbreitet und leider geglaubt. Dem gegenüber ist zu verwundern, daß es die liberale Partei in einzelnen Wahlkreisen auf mehr als die Hälfte der ultramontanen Stimmen gebracht hat, steht doch den Reichstreuen kein anderes Mittel gegen¬ über den Lügen des Klerus zu Gebote, als durch Belehrung und Ermahnung ans die Massen einzuwirken; daß diese Thätigkeit aber nur sehr langsam eine Bresche in den Wall des mit Absicht großgezogenen Aberglaubens und der geistigen Finsterniß legen kann, ist leicht begreiflich. Die agitatorische Thätigkeit der liberalen Partei aber ist gegenüber der Rastlosigkeit des Klerus keineswegs die intensive, die sie eigentlich sein müßte. Während die Gegenpartei das ganze Jahr wühlt und hetzt, bequemen sich die Liberalen gewöhnlich erst Wenige Tage vor der Wahl zur Agitation. Es war demnach nicht unbegreif-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/283>, abgerufen am 22.05.2024.