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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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lich, daß drei Wahlkreise, in denen bei der Wahl im Jahre 1874 die reichs-
treue Partei mit nur sehr geringen Majoritäten gesiegt hatte, an das Centrum
verloren gingen. Daß trotzdem der Liberalismus an Terrain gewinnt, haben die
Abgeordnetenwahleu am Eude des vorigen Jahres bewiesen, bei denen dadurch,
daß die aufgeklärten Elemente durch das indirekte Wahlsystem mehr zur
Geltung kamen, nicht nur achtunggebietende liberale Majoritäten erzielt, sondern
auch zwei der ultramontansten östlichsten Wahlkreise dem Centrum entrissen
wurden.

Im Regierungsbezirk Breslau hat der Gesammtbesitzstand der Parteien
keine wesentliche Veränderung erlitten, nur die Fortschrittspartei verlor einen
Sitz und die Sozialdemokraten gewannen einen. Es wurden jedoch nnr in
acht von dreizehn Wahlkreisen die früheren Vertreter wieder gewählt. In
den anderen fünf Wahlkreisen änderte sich der Besitzstand dahin, daß die
nationalliberale Partei einen Wahlkreis an die Conservativen und einen
an die Sozialdemokraten verlor, dagegen je einen Wahlkreis der Fortschritts¬
partei und den Conservativen abnahm, mithin im allgemeinen im gleichen Be¬
sitzstande blieb, die Conservativen einen Wahlkreis mit den Nationallibe¬
ralen tauschten, die Fortschrittspartei einen Wahlkreis an die National¬
liberalen verlor, die Sozia iisdem einen von Letzteren gewannen. Verloren
hat also nur die Fortschrittspartei, gewonnen nnr die Sozialisten. Der
Wahlkampf war ein sehr heftiger, es waren allein sechs Stichwahlen nöthig.
Besonders in drei Wahlkreisen waren die Wahlen interessant, in den beiden
Wahlkreisen der Stadt Breslau und im Wahlkreise Reich end ach-neu-
r ode. Seit einer Reihe von Jahren waren in Breslau Natioualliberale und
Fortschrittspartei bei den Wahlen Hand in Hand gegangen, bei den Reichs¬
tagswahlen wurden stets zwei Fortschrittler gewählt.

Auch bei der letzten Abgeordnetenwahl wurden Comprvmißcandidaten
beider Parteien gewählt. Aber schon bei dieser Wahl bildete sich eine Spaltung
innerhalb der Fortschrittspartei, eine Minorität, die jeden Compromiß mit den
Nationalliberalen perhorrescirte, bildete einen neuen Wahlverein und versuchte,
den alten Wahlverein von der nativnalliberalen Partei abzuziehen. Dies, sowie
die durch die Justizgesetzannahme unmittelbar vor den Reichstagswahlen ein¬
getretene Spaltung der beiden liberalen Parteien, vollzog auch in Breslau
den Riß zwischen der Fortschrittspartei und den Nationalliberalen. Die Fort¬
schrittspartei besonders wies trotz der dnrch die Sozialdemokraten drohenden
Gefahr jedes vereinigte Vorgehen zurück, und so sah sich die nationalliberale
Partei, wenn anch mit geringen Hoffnungen auf Erfolg, veranlaßt, eigne
Candidaten aufzustellen. Das Resultat eines außerordentlich heftigen Wahl¬
kampfes war das, daß in einem Wahlbezirk der Candidat der Fortschrittspartei


lich, daß drei Wahlkreise, in denen bei der Wahl im Jahre 1874 die reichs-
treue Partei mit nur sehr geringen Majoritäten gesiegt hatte, an das Centrum
verloren gingen. Daß trotzdem der Liberalismus an Terrain gewinnt, haben die
Abgeordnetenwahleu am Eude des vorigen Jahres bewiesen, bei denen dadurch,
daß die aufgeklärten Elemente durch das indirekte Wahlsystem mehr zur
Geltung kamen, nicht nur achtunggebietende liberale Majoritäten erzielt, sondern
auch zwei der ultramontansten östlichsten Wahlkreise dem Centrum entrissen
wurden.

Im Regierungsbezirk Breslau hat der Gesammtbesitzstand der Parteien
keine wesentliche Veränderung erlitten, nur die Fortschrittspartei verlor einen
Sitz und die Sozialdemokraten gewannen einen. Es wurden jedoch nnr in
acht von dreizehn Wahlkreisen die früheren Vertreter wieder gewählt. In
den anderen fünf Wahlkreisen änderte sich der Besitzstand dahin, daß die
nationalliberale Partei einen Wahlkreis an die Conservativen und einen
an die Sozialdemokraten verlor, dagegen je einen Wahlkreis der Fortschritts¬
partei und den Conservativen abnahm, mithin im allgemeinen im gleichen Be¬
sitzstande blieb, die Conservativen einen Wahlkreis mit den Nationallibe¬
ralen tauschten, die Fortschrittspartei einen Wahlkreis an die National¬
liberalen verlor, die Sozia iisdem einen von Letzteren gewannen. Verloren
hat also nur die Fortschrittspartei, gewonnen nnr die Sozialisten. Der
Wahlkampf war ein sehr heftiger, es waren allein sechs Stichwahlen nöthig.
Besonders in drei Wahlkreisen waren die Wahlen interessant, in den beiden
Wahlkreisen der Stadt Breslau und im Wahlkreise Reich end ach-neu-
r ode. Seit einer Reihe von Jahren waren in Breslau Natioualliberale und
Fortschrittspartei bei den Wahlen Hand in Hand gegangen, bei den Reichs¬
tagswahlen wurden stets zwei Fortschrittler gewählt.

Auch bei der letzten Abgeordnetenwahl wurden Comprvmißcandidaten
beider Parteien gewählt. Aber schon bei dieser Wahl bildete sich eine Spaltung
innerhalb der Fortschrittspartei, eine Minorität, die jeden Compromiß mit den
Nationalliberalen perhorrescirte, bildete einen neuen Wahlverein und versuchte,
den alten Wahlverein von der nativnalliberalen Partei abzuziehen. Dies, sowie
die durch die Justizgesetzannahme unmittelbar vor den Reichstagswahlen ein¬
getretene Spaltung der beiden liberalen Parteien, vollzog auch in Breslau
den Riß zwischen der Fortschrittspartei und den Nationalliberalen. Die Fort¬
schrittspartei besonders wies trotz der dnrch die Sozialdemokraten drohenden
Gefahr jedes vereinigte Vorgehen zurück, und so sah sich die nationalliberale
Partei, wenn anch mit geringen Hoffnungen auf Erfolg, veranlaßt, eigne
Candidaten aufzustellen. Das Resultat eines außerordentlich heftigen Wahl¬
kampfes war das, daß in einem Wahlbezirk der Candidat der Fortschrittspartei


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[0284] lich, daß drei Wahlkreise, in denen bei der Wahl im Jahre 1874 die reichs- treue Partei mit nur sehr geringen Majoritäten gesiegt hatte, an das Centrum verloren gingen. Daß trotzdem der Liberalismus an Terrain gewinnt, haben die Abgeordnetenwahleu am Eude des vorigen Jahres bewiesen, bei denen dadurch, daß die aufgeklärten Elemente durch das indirekte Wahlsystem mehr zur Geltung kamen, nicht nur achtunggebietende liberale Majoritäten erzielt, sondern auch zwei der ultramontansten östlichsten Wahlkreise dem Centrum entrissen wurden. Im Regierungsbezirk Breslau hat der Gesammtbesitzstand der Parteien keine wesentliche Veränderung erlitten, nur die Fortschrittspartei verlor einen Sitz und die Sozialdemokraten gewannen einen. Es wurden jedoch nnr in acht von dreizehn Wahlkreisen die früheren Vertreter wieder gewählt. In den anderen fünf Wahlkreisen änderte sich der Besitzstand dahin, daß die nationalliberale Partei einen Wahlkreis an die Conservativen und einen an die Sozialdemokraten verlor, dagegen je einen Wahlkreis der Fortschritts¬ partei und den Conservativen abnahm, mithin im allgemeinen im gleichen Be¬ sitzstande blieb, die Conservativen einen Wahlkreis mit den Nationallibe¬ ralen tauschten, die Fortschrittspartei einen Wahlkreis an die National¬ liberalen verlor, die Sozia iisdem einen von Letzteren gewannen. Verloren hat also nur die Fortschrittspartei, gewonnen nnr die Sozialisten. Der Wahlkampf war ein sehr heftiger, es waren allein sechs Stichwahlen nöthig. Besonders in drei Wahlkreisen waren die Wahlen interessant, in den beiden Wahlkreisen der Stadt Breslau und im Wahlkreise Reich end ach-neu- r ode. Seit einer Reihe von Jahren waren in Breslau Natioualliberale und Fortschrittspartei bei den Wahlen Hand in Hand gegangen, bei den Reichs¬ tagswahlen wurden stets zwei Fortschrittler gewählt. Auch bei der letzten Abgeordnetenwahl wurden Comprvmißcandidaten beider Parteien gewählt. Aber schon bei dieser Wahl bildete sich eine Spaltung innerhalb der Fortschrittspartei, eine Minorität, die jeden Compromiß mit den Nationalliberalen perhorrescirte, bildete einen neuen Wahlverein und versuchte, den alten Wahlverein von der nativnalliberalen Partei abzuziehen. Dies, sowie die durch die Justizgesetzannahme unmittelbar vor den Reichstagswahlen ein¬ getretene Spaltung der beiden liberalen Parteien, vollzog auch in Breslau den Riß zwischen der Fortschrittspartei und den Nationalliberalen. Die Fort¬ schrittspartei besonders wies trotz der dnrch die Sozialdemokraten drohenden Gefahr jedes vereinigte Vorgehen zurück, und so sah sich die nationalliberale Partei, wenn anch mit geringen Hoffnungen auf Erfolg, veranlaßt, eigne Candidaten aufzustellen. Das Resultat eines außerordentlich heftigen Wahl¬ kampfes war das, daß in einem Wahlbezirk der Candidat der Fortschrittspartei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/284>, abgerufen am 15.06.2024.