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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Richter, blinde nicht meine Augen! -- Siehe, er fährt, er hält die wüthenden
Wetter mit schlaffen Zügel, ungestüme Wirbelwinde wälzen ihn fort. -- Sieh
dort jene grimmigen Löwen, ihnen folgen ihre gelben Jungen, sie schreiten über
Todtengebeine, bei schwarzer Nacht eilen sie über Menschenstaub. Dort schläft
der sichere Wanderer, sie eilen hin, sie zerreißen ihn, ihr Schlund trieft von
dem Blute. -- Was seh ich! Halt ein! Mein Vater! Helena, wen durchbohrst
Du? Ich sinke. Dort ringt der sterbende Greis mit dem Tode." Man Hort
einen Schrei, Helena stürzt mit zerstreuten Haaren und einem blutigen Dolche
aus der Mittelpforte, hinter ihr sieht man den sterbenden Theodor in den
Armen von Fausts Mutter. Helena glaubt mit dein Blute des Greises das
ihres Geliebten erkauft zu haben, Sie erfährt von diesen:, daß sie sich hat
täuschen lassen, und daß Faust uoch in dieser Minute sterben muß. Sie be¬
reut ihre That, und um mit Faust in den Tod zu gehen, ersticht sie sich.
Theodor vergibt ihr und Faust, da sie nur Verführte sind, die Mitleid ver¬
dienen. Dann betet er: "O Vater der Menschen, Du hast uns nicht in Deinem
Zorne, sondern aus Liebe erschaffen; Du rüstest uns aus Nichts, damit wir
an Deiner Seligkeit theilnehmen sollen. Warum, Herr, willst Du solche
Würmer, wie wir sind, in Deinem Zorne zertreten? Es ist die schönste That
eines Gottes, zu verzeihen. Begnüge Dich mit unserm Blute und nimm unsere
Seelen mit väterlichen Händen auf. Gib zu, daß ich mit meinen Kindern
zugleich sterbe und einst mit ihnen lebe." Helena ist durch dieses Gebet ge¬
tröstet. Faust fühlt sich dadurch angeregt, sich ebenfalls betend an die göttliche
Liebe und Barmherzigkeit zu wenden und um Gnade zu flehen, und in dieser
Gemüthsverfassung sterben sie. Da dringt Mephistopheles mit einer Schar
Furien herein, sie umkreisen die Todten mit brennenden Fackeln, und jener
ruft mit stolzer Frende aus: "Hölle, blick herauf! Gefährten seht, welch ein
herrlicher Sieg! Ich habe die Geschöpfe unseres Feindes vernichtet. Schau
herab, Donnerschleuderer, bewundere meine Thaten! -- Aber was seh ich! Die
Schale wankt. Verflucht sei ihr Schicksal!" Plötzlich erscheint Jthuriel in
strahlender Gestalt mit einer Schar von Engeln, während der Donner rollt
und Blitze leuchten. Mephistopheles und seine Furien zittern. Der Donner
schweigt, und Jthuriel verkündet:

"Der Allmächtige, der im Himmel seinen Thron hat, der mit einem Wink
tausend Welten aus nichts heraufruft, der Sonnen leuchten und Donner brüllen
heißt, der Gott hat die Sünder gerichtet. Die Wage der Gerechtigkeit hat sie
Zu leicht befunden, aber die unendliche Barmherzigkeit hat ihre Laster weit
überwogen. -- Frevler, zittert und betet an seine gerechten Urtheile! -- Er
nimmt die Reuigen in seinen väterlichen Schoß auf und stürzt Euch, ver¬
fluchte Verführer, in eine ewige Hölle!"


Grenzboten I. 1877, _ 53

Richter, blinde nicht meine Augen! — Siehe, er fährt, er hält die wüthenden
Wetter mit schlaffen Zügel, ungestüme Wirbelwinde wälzen ihn fort. — Sieh
dort jene grimmigen Löwen, ihnen folgen ihre gelben Jungen, sie schreiten über
Todtengebeine, bei schwarzer Nacht eilen sie über Menschenstaub. Dort schläft
der sichere Wanderer, sie eilen hin, sie zerreißen ihn, ihr Schlund trieft von
dem Blute. — Was seh ich! Halt ein! Mein Vater! Helena, wen durchbohrst
Du? Ich sinke. Dort ringt der sterbende Greis mit dem Tode." Man Hort
einen Schrei, Helena stürzt mit zerstreuten Haaren und einem blutigen Dolche
aus der Mittelpforte, hinter ihr sieht man den sterbenden Theodor in den
Armen von Fausts Mutter. Helena glaubt mit dein Blute des Greises das
ihres Geliebten erkauft zu haben, Sie erfährt von diesen:, daß sie sich hat
täuschen lassen, und daß Faust uoch in dieser Minute sterben muß. Sie be¬
reut ihre That, und um mit Faust in den Tod zu gehen, ersticht sie sich.
Theodor vergibt ihr und Faust, da sie nur Verführte sind, die Mitleid ver¬
dienen. Dann betet er: „O Vater der Menschen, Du hast uns nicht in Deinem
Zorne, sondern aus Liebe erschaffen; Du rüstest uns aus Nichts, damit wir
an Deiner Seligkeit theilnehmen sollen. Warum, Herr, willst Du solche
Würmer, wie wir sind, in Deinem Zorne zertreten? Es ist die schönste That
eines Gottes, zu verzeihen. Begnüge Dich mit unserm Blute und nimm unsere
Seelen mit väterlichen Händen auf. Gib zu, daß ich mit meinen Kindern
zugleich sterbe und einst mit ihnen lebe." Helena ist durch dieses Gebet ge¬
tröstet. Faust fühlt sich dadurch angeregt, sich ebenfalls betend an die göttliche
Liebe und Barmherzigkeit zu wenden und um Gnade zu flehen, und in dieser
Gemüthsverfassung sterben sie. Da dringt Mephistopheles mit einer Schar
Furien herein, sie umkreisen die Todten mit brennenden Fackeln, und jener
ruft mit stolzer Frende aus: „Hölle, blick herauf! Gefährten seht, welch ein
herrlicher Sieg! Ich habe die Geschöpfe unseres Feindes vernichtet. Schau
herab, Donnerschleuderer, bewundere meine Thaten! — Aber was seh ich! Die
Schale wankt. Verflucht sei ihr Schicksal!" Plötzlich erscheint Jthuriel in
strahlender Gestalt mit einer Schar von Engeln, während der Donner rollt
und Blitze leuchten. Mephistopheles und seine Furien zittern. Der Donner
schweigt, und Jthuriel verkündet:

„Der Allmächtige, der im Himmel seinen Thron hat, der mit einem Wink
tausend Welten aus nichts heraufruft, der Sonnen leuchten und Donner brüllen
heißt, der Gott hat die Sünder gerichtet. Die Wage der Gerechtigkeit hat sie
Zu leicht befunden, aber die unendliche Barmherzigkeit hat ihre Laster weit
überwogen. — Frevler, zittert und betet an seine gerechten Urtheile! — Er
nimmt die Reuigen in seinen väterlichen Schoß auf und stürzt Euch, ver¬
fluchte Verführer, in eine ewige Hölle!"


Grenzboten I. 1877, _ 53
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[0465] Richter, blinde nicht meine Augen! — Siehe, er fährt, er hält die wüthenden Wetter mit schlaffen Zügel, ungestüme Wirbelwinde wälzen ihn fort. — Sieh dort jene grimmigen Löwen, ihnen folgen ihre gelben Jungen, sie schreiten über Todtengebeine, bei schwarzer Nacht eilen sie über Menschenstaub. Dort schläft der sichere Wanderer, sie eilen hin, sie zerreißen ihn, ihr Schlund trieft von dem Blute. — Was seh ich! Halt ein! Mein Vater! Helena, wen durchbohrst Du? Ich sinke. Dort ringt der sterbende Greis mit dem Tode." Man Hort einen Schrei, Helena stürzt mit zerstreuten Haaren und einem blutigen Dolche aus der Mittelpforte, hinter ihr sieht man den sterbenden Theodor in den Armen von Fausts Mutter. Helena glaubt mit dein Blute des Greises das ihres Geliebten erkauft zu haben, Sie erfährt von diesen:, daß sie sich hat täuschen lassen, und daß Faust uoch in dieser Minute sterben muß. Sie be¬ reut ihre That, und um mit Faust in den Tod zu gehen, ersticht sie sich. Theodor vergibt ihr und Faust, da sie nur Verführte sind, die Mitleid ver¬ dienen. Dann betet er: „O Vater der Menschen, Du hast uns nicht in Deinem Zorne, sondern aus Liebe erschaffen; Du rüstest uns aus Nichts, damit wir an Deiner Seligkeit theilnehmen sollen. Warum, Herr, willst Du solche Würmer, wie wir sind, in Deinem Zorne zertreten? Es ist die schönste That eines Gottes, zu verzeihen. Begnüge Dich mit unserm Blute und nimm unsere Seelen mit väterlichen Händen auf. Gib zu, daß ich mit meinen Kindern zugleich sterbe und einst mit ihnen lebe." Helena ist durch dieses Gebet ge¬ tröstet. Faust fühlt sich dadurch angeregt, sich ebenfalls betend an die göttliche Liebe und Barmherzigkeit zu wenden und um Gnade zu flehen, und in dieser Gemüthsverfassung sterben sie. Da dringt Mephistopheles mit einer Schar Furien herein, sie umkreisen die Todten mit brennenden Fackeln, und jener ruft mit stolzer Frende aus: „Hölle, blick herauf! Gefährten seht, welch ein herrlicher Sieg! Ich habe die Geschöpfe unseres Feindes vernichtet. Schau herab, Donnerschleuderer, bewundere meine Thaten! — Aber was seh ich! Die Schale wankt. Verflucht sei ihr Schicksal!" Plötzlich erscheint Jthuriel in strahlender Gestalt mit einer Schar von Engeln, während der Donner rollt und Blitze leuchten. Mephistopheles und seine Furien zittern. Der Donner schweigt, und Jthuriel verkündet: „Der Allmächtige, der im Himmel seinen Thron hat, der mit einem Wink tausend Welten aus nichts heraufruft, der Sonnen leuchten und Donner brüllen heißt, der Gott hat die Sünder gerichtet. Die Wage der Gerechtigkeit hat sie Zu leicht befunden, aber die unendliche Barmherzigkeit hat ihre Laster weit überwogen. — Frevler, zittert und betet an seine gerechten Urtheile! — Er nimmt die Reuigen in seinen väterlichen Schoß auf und stürzt Euch, ver¬ fluchte Verführer, in eine ewige Hölle!" Grenzboten I. 1877, _ 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/465>, abgerufen am 22.05.2024.