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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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stützungswohnsitz erschlichen hätten, so ist nicht zu bezweifeln, daß solche Mu--
noeuvres bei der einjährigen Frist noch leichter auszuführen sind. Ob wirklich
eine einigermaßen beachtenswerthe Anzahl von derlei Fällen konstatirt ist,
wissen wir nicht. Strenge Strafbestimmungen dürften genügen, dem Unfug zu
steuern.

Man hat die Befürchtung ausgesprochen, die Fristverkürznng werde die
städtischen Behörden zu einer allzustrengen Handhabung des AbWeisungsrechtes
(Freizügigkeitsgesetz §Z 4 ff.) veranlassen und in Folge dessen könne durch die
Fristverkürzung das peinliche und häßliche Schubwesen wohl gar eher ver¬
mehrt, als vermindert werden (Kölner Zeitung vom 30. Juni). Auch wir ge¬
höre" zu Denen, die dem Schubwesen den Untergang geschworen haben, und
wenn wir annehmen könnten, daß die eben ausgesprochene Befürchtung ge¬
gründet wäre, so müßte uns dies zu den ernstesten Erwägungen veranlassen,
ob nicht die Fernhaltung jener Gefahr um den Preis der Darangabe der
Gesetzesünderung zu erwirken wäre. Allein wir theilen die Befürchtung nicht.
Einmal bietet der kürzere Zeitraum weniger Gelegenheit und Muße zum Aus¬
spioniren und sodann treten im Laufe der verkürzten Frist seltener Verhältnisse
ein, welche zum Ausweisuugsversnch veranlassen möchten, als in der um ein
Jahr länger bemessenen Frist.

Keines Nachweises bedarf die Behauptung, daß bei der einjährigen Frist
die Geschäfte der Armenbehörden und der übrigen in Mitleidenschaft gezogenen
Stellen mindere sind, als bei der zweijährigen. Ebenso ist klar, daß sich die
Anfenthaltsverhältnisse bezüglich eines Jahres sicherer feststellen lassen, als be¬
züglich zweier Jahre. Was endlich die Besorgnis; betrifft, daß die Verkürzung
der zweijährigen Frist eine erhebliche Vermehrung der Landarmen zur Folge
haben werde, da die den Verlust des Unterstützuugswohnsitzes bedingende ein¬
jährige Abwesenheit häufig nicht mit einer die gleiche Zeitdauer hindurch fort¬
gesetzten Anwesenheit an einem und demselben Orte zusammenfalle, so weisen
wir dem gegenüber mit den "Motiven" zu unserem Gesetzentwurf darauf hin,
daß dem erleichterten Verlust des alten der erleichterte Erwerb eines neuen
Unterstütznngswvhnsitzes gegenüber steht. Wenn jener Landarme schafft, so
wird dieser deren Zahl entsprechend verringern. Ja wir sind der Ansicht, daß,
je länger die Frist für Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes be¬
messen wird, desto mehr die Zahl derer wachse, die eines Unterstützungswohn¬
sitzes entbehren und folglich als Landarme zu behandeln sind, und daß umge¬
kehrt, je kürzer die Frist daure, die Zahl derer, die eiuen Unterstützungswohnsitz
erwerben, sich mehre.

Das Ergebniß der vorstehenden Erörterung zu der unter Ziffer l aufge¬
führten Gesetzesänderung fassen wir dahin zusammen, daß wir die Gesetzesände-


stützungswohnsitz erschlichen hätten, so ist nicht zu bezweifeln, daß solche Mu--
noeuvres bei der einjährigen Frist noch leichter auszuführen sind. Ob wirklich
eine einigermaßen beachtenswerthe Anzahl von derlei Fällen konstatirt ist,
wissen wir nicht. Strenge Strafbestimmungen dürften genügen, dem Unfug zu
steuern.

Man hat die Befürchtung ausgesprochen, die Fristverkürznng werde die
städtischen Behörden zu einer allzustrengen Handhabung des AbWeisungsrechtes
(Freizügigkeitsgesetz §Z 4 ff.) veranlassen und in Folge dessen könne durch die
Fristverkürzung das peinliche und häßliche Schubwesen wohl gar eher ver¬
mehrt, als vermindert werden (Kölner Zeitung vom 30. Juni). Auch wir ge¬
höre» zu Denen, die dem Schubwesen den Untergang geschworen haben, und
wenn wir annehmen könnten, daß die eben ausgesprochene Befürchtung ge¬
gründet wäre, so müßte uns dies zu den ernstesten Erwägungen veranlassen,
ob nicht die Fernhaltung jener Gefahr um den Preis der Darangabe der
Gesetzesünderung zu erwirken wäre. Allein wir theilen die Befürchtung nicht.
Einmal bietet der kürzere Zeitraum weniger Gelegenheit und Muße zum Aus¬
spioniren und sodann treten im Laufe der verkürzten Frist seltener Verhältnisse
ein, welche zum Ausweisuugsversnch veranlassen möchten, als in der um ein
Jahr länger bemessenen Frist.

Keines Nachweises bedarf die Behauptung, daß bei der einjährigen Frist
die Geschäfte der Armenbehörden und der übrigen in Mitleidenschaft gezogenen
Stellen mindere sind, als bei der zweijährigen. Ebenso ist klar, daß sich die
Anfenthaltsverhältnisse bezüglich eines Jahres sicherer feststellen lassen, als be¬
züglich zweier Jahre. Was endlich die Besorgnis; betrifft, daß die Verkürzung
der zweijährigen Frist eine erhebliche Vermehrung der Landarmen zur Folge
haben werde, da die den Verlust des Unterstützuugswohnsitzes bedingende ein¬
jährige Abwesenheit häufig nicht mit einer die gleiche Zeitdauer hindurch fort¬
gesetzten Anwesenheit an einem und demselben Orte zusammenfalle, so weisen
wir dem gegenüber mit den „Motiven" zu unserem Gesetzentwurf darauf hin,
daß dem erleichterten Verlust des alten der erleichterte Erwerb eines neuen
Unterstütznngswvhnsitzes gegenüber steht. Wenn jener Landarme schafft, so
wird dieser deren Zahl entsprechend verringern. Ja wir sind der Ansicht, daß,
je länger die Frist für Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes be¬
messen wird, desto mehr die Zahl derer wachse, die eines Unterstützungswohn¬
sitzes entbehren und folglich als Landarme zu behandeln sind, und daß umge¬
kehrt, je kürzer die Frist daure, die Zahl derer, die eiuen Unterstützungswohnsitz
erwerben, sich mehre.

Das Ergebniß der vorstehenden Erörterung zu der unter Ziffer l aufge¬
führten Gesetzesänderung fassen wir dahin zusammen, daß wir die Gesetzesände-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/106>, abgerufen am 24.05.2024.