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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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folgenden Jahrzehnten bleibt das Verhältniß ziemlich unverändert. Offenbar
hat die Vermehrung des Lehrstoffs und seiner Theilung die Vermehrung der
Lehrerzahl unverhältnißmäßig überholt. So kündigt beispielsweise im Winter¬
semester 1830 Professor Weigel 11 Vorlesungen an und zwar folgende: Propä-
deutik der Medicin und Chirurgie, Chemie, medicinische Chemie, Mineralogie,
chemische Experimente, Arzneimittellehre, Phnrmacentik, Arzneiverordnungs¬
lehre, ferner Repetitorien über Mineralogie, Chemie, N^ecria meckiea, Diätetik
und Tvxicologie; endlich in lateinischer und deutscher Sprache Konservatorien
und Examinatorien über verschiedene zur Mediein und den Naturwissenschaften
gehörige Gegenstände. Wenn dieser College vor 50 Jahren alles das leisten
konnte, was er ankündigte, so ist er gewiß ob seiner Leistungsfähigkeit zu be¬
neiden und wenn er wirklich alle angekündigte Vorlesungen hielt, so muß er
sich nicht nnr eines vortrefflichen Geistes, sondern auch eines vortrefflichen
Körpers erfreut haben. Ein sehr reges Wachsthum zeigen die Lehrkräfte in
dem Jahrzehnt von 1850 bis 1860. Im Wintersemester 1850 zeigen 4 or¬
dentliche, 1 außevrdentlicher Professor, zwei Privatdozenten, zusammen 7 Lehrer
19 Vorlesungen an; dagegen 10 Jahre später kündigen 6 ordentliche, 3 außer¬
ordentliche Professoren und 4 Privatdozenten, zusammen 13 Lehrer 33 Vor¬
lesungen an. Von 1860 bis 1870 steigt die Zahl der Lehrer auf 17, die
Zahl der Vorlesungen ans 41. Jetzt lehren 8 ordentliche, 4 außerordentliche
Professoren nud 7 Privatdozenten, zusammen 19 Lehrer, die medizinische
Wissenschaft in 43 Vorlesungen.

Daß mit dieser fortschreitenden Arbeitstheilung der Lehrarbeit die Aufgaben
für den Lernenden andere geworden find, ist selbstverständlich. Aber hier stellt
sich nun sofort eine wichtige Frage. Ist die Menge des Arbeitsstoffs mit der
Theilung der Arbeit über das Maaß der Kräfte eines Lernenden hincmsge-
gestiegen? Gehen wir einer Zeit entgegen, in welcher es unmöglich sein wird,
daß einer die ganze medizinische Wissenschaft erlerne? Steht es uns in der
Zukunft bevor, daß Studirende der Chirurgie, der Augenheilkunde, der Nerven¬
krankheiten u. f. w. an die Stelle der Studirenden der Medizin treten? Viel¬
leicht belächeln viele und am meisten noch meine Fachgenossen, diese Fragestel¬
lung, und ich muß auch sofort erklären, daß ich die Frage nur stelle, um sie
auf das bestimmteste zu verneinen. Aber für ganz überflüssig möchte ich das
Aufstellen solcher Fragen nicht halten; denn es bedarf nnr einer geringen
Schulung in wissenschaftlicher Methodik, um das Verlangen zu stellen, daß
man Vorgänge, deren stetig fortschreitende Entwickelung in der Vergangenheit
nicht zu verkennen ist, auch in Betreff der Möglichkeit ihrer weiteren Entwicke¬
lung für die Zukunft prüfe.

Nun muß zunächst die Annahme zurückgewiesen werden, daß der Umfang


folgenden Jahrzehnten bleibt das Verhältniß ziemlich unverändert. Offenbar
hat die Vermehrung des Lehrstoffs und seiner Theilung die Vermehrung der
Lehrerzahl unverhältnißmäßig überholt. So kündigt beispielsweise im Winter¬
semester 1830 Professor Weigel 11 Vorlesungen an und zwar folgende: Propä-
deutik der Medicin und Chirurgie, Chemie, medicinische Chemie, Mineralogie,
chemische Experimente, Arzneimittellehre, Phnrmacentik, Arzneiverordnungs¬
lehre, ferner Repetitorien über Mineralogie, Chemie, N^ecria meckiea, Diätetik
und Tvxicologie; endlich in lateinischer und deutscher Sprache Konservatorien
und Examinatorien über verschiedene zur Mediein und den Naturwissenschaften
gehörige Gegenstände. Wenn dieser College vor 50 Jahren alles das leisten
konnte, was er ankündigte, so ist er gewiß ob seiner Leistungsfähigkeit zu be¬
neiden und wenn er wirklich alle angekündigte Vorlesungen hielt, so muß er
sich nicht nnr eines vortrefflichen Geistes, sondern auch eines vortrefflichen
Körpers erfreut haben. Ein sehr reges Wachsthum zeigen die Lehrkräfte in
dem Jahrzehnt von 1850 bis 1860. Im Wintersemester 1850 zeigen 4 or¬
dentliche, 1 außevrdentlicher Professor, zwei Privatdozenten, zusammen 7 Lehrer
19 Vorlesungen an; dagegen 10 Jahre später kündigen 6 ordentliche, 3 außer¬
ordentliche Professoren und 4 Privatdozenten, zusammen 13 Lehrer 33 Vor¬
lesungen an. Von 1860 bis 1870 steigt die Zahl der Lehrer auf 17, die
Zahl der Vorlesungen ans 41. Jetzt lehren 8 ordentliche, 4 außerordentliche
Professoren nud 7 Privatdozenten, zusammen 19 Lehrer, die medizinische
Wissenschaft in 43 Vorlesungen.

Daß mit dieser fortschreitenden Arbeitstheilung der Lehrarbeit die Aufgaben
für den Lernenden andere geworden find, ist selbstverständlich. Aber hier stellt
sich nun sofort eine wichtige Frage. Ist die Menge des Arbeitsstoffs mit der
Theilung der Arbeit über das Maaß der Kräfte eines Lernenden hincmsge-
gestiegen? Gehen wir einer Zeit entgegen, in welcher es unmöglich sein wird,
daß einer die ganze medizinische Wissenschaft erlerne? Steht es uns in der
Zukunft bevor, daß Studirende der Chirurgie, der Augenheilkunde, der Nerven¬
krankheiten u. f. w. an die Stelle der Studirenden der Medizin treten? Viel¬
leicht belächeln viele und am meisten noch meine Fachgenossen, diese Fragestel¬
lung, und ich muß auch sofort erklären, daß ich die Frage nur stelle, um sie
auf das bestimmteste zu verneinen. Aber für ganz überflüssig möchte ich das
Aufstellen solcher Fragen nicht halten; denn es bedarf nnr einer geringen
Schulung in wissenschaftlicher Methodik, um das Verlangen zu stellen, daß
man Vorgänge, deren stetig fortschreitende Entwickelung in der Vergangenheit
nicht zu verkennen ist, auch in Betreff der Möglichkeit ihrer weiteren Entwicke¬
lung für die Zukunft prüfe.

Nun muß zunächst die Annahme zurückgewiesen werden, daß der Umfang


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[0202] folgenden Jahrzehnten bleibt das Verhältniß ziemlich unverändert. Offenbar hat die Vermehrung des Lehrstoffs und seiner Theilung die Vermehrung der Lehrerzahl unverhältnißmäßig überholt. So kündigt beispielsweise im Winter¬ semester 1830 Professor Weigel 11 Vorlesungen an und zwar folgende: Propä- deutik der Medicin und Chirurgie, Chemie, medicinische Chemie, Mineralogie, chemische Experimente, Arzneimittellehre, Phnrmacentik, Arzneiverordnungs¬ lehre, ferner Repetitorien über Mineralogie, Chemie, N^ecria meckiea, Diätetik und Tvxicologie; endlich in lateinischer und deutscher Sprache Konservatorien und Examinatorien über verschiedene zur Mediein und den Naturwissenschaften gehörige Gegenstände. Wenn dieser College vor 50 Jahren alles das leisten konnte, was er ankündigte, so ist er gewiß ob seiner Leistungsfähigkeit zu be¬ neiden und wenn er wirklich alle angekündigte Vorlesungen hielt, so muß er sich nicht nnr eines vortrefflichen Geistes, sondern auch eines vortrefflichen Körpers erfreut haben. Ein sehr reges Wachsthum zeigen die Lehrkräfte in dem Jahrzehnt von 1850 bis 1860. Im Wintersemester 1850 zeigen 4 or¬ dentliche, 1 außevrdentlicher Professor, zwei Privatdozenten, zusammen 7 Lehrer 19 Vorlesungen an; dagegen 10 Jahre später kündigen 6 ordentliche, 3 außer¬ ordentliche Professoren und 4 Privatdozenten, zusammen 13 Lehrer 33 Vor¬ lesungen an. Von 1860 bis 1870 steigt die Zahl der Lehrer auf 17, die Zahl der Vorlesungen ans 41. Jetzt lehren 8 ordentliche, 4 außerordentliche Professoren nud 7 Privatdozenten, zusammen 19 Lehrer, die medizinische Wissenschaft in 43 Vorlesungen. Daß mit dieser fortschreitenden Arbeitstheilung der Lehrarbeit die Aufgaben für den Lernenden andere geworden find, ist selbstverständlich. Aber hier stellt sich nun sofort eine wichtige Frage. Ist die Menge des Arbeitsstoffs mit der Theilung der Arbeit über das Maaß der Kräfte eines Lernenden hincmsge- gestiegen? Gehen wir einer Zeit entgegen, in welcher es unmöglich sein wird, daß einer die ganze medizinische Wissenschaft erlerne? Steht es uns in der Zukunft bevor, daß Studirende der Chirurgie, der Augenheilkunde, der Nerven¬ krankheiten u. f. w. an die Stelle der Studirenden der Medizin treten? Viel¬ leicht belächeln viele und am meisten noch meine Fachgenossen, diese Fragestel¬ lung, und ich muß auch sofort erklären, daß ich die Frage nur stelle, um sie auf das bestimmteste zu verneinen. Aber für ganz überflüssig möchte ich das Aufstellen solcher Fragen nicht halten; denn es bedarf nnr einer geringen Schulung in wissenschaftlicher Methodik, um das Verlangen zu stellen, daß man Vorgänge, deren stetig fortschreitende Entwickelung in der Vergangenheit nicht zu verkennen ist, auch in Betreff der Möglichkeit ihrer weiteren Entwicke¬ lung für die Zukunft prüfe. Nun muß zunächst die Annahme zurückgewiesen werden, daß der Umfang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/202>, abgerufen am 10.06.2024.